Das Hamburger Weltwirtschaftsinstitut hat die baden-württembergische Landeshauptstadt Stuttgart mehrere Jahre in Folge zur deutschen »Kulturhauptstadt des Jahres« ernannt. Doch wie viel Kultur steckt wirklich in Stuttgart? Theresa Brüheim fragt beim Ersten Bürgermeister und Kulturdezernenten Fabian Mayer nach.

Theresa Brüheim: Herr Mayer, welche Themen stehen bei Ihnen in Stuttgart auf der kulturpolitischen Agenda für 2023?

Fabian Mayer: 2023 ist ein Jahr, das geprägt ist von einer Normalisierung nach Corona. Und gleichzeitig findet trotzdem wieder Krisenbewältigung statt, aber unter neuen Vorzeichen. Das heißt, Corona ist zwar überwunden und wir sehen in vielen Kulturinstitutionen eine Normalisierungstendenz, aber gleichzeitig gibt es eine neue Krisenlage durch extrem gestiegene Energie- und Produktionskosten und damit einhergehend Erwartungen in den Belegschaften der Kulturinstitutionen an inflationsbedingte Gehaltssteigerungen. Das stellt Kulturinstitutionen vor neue Herausforderungen. Daher haben wir als Kulturverwaltung noch nicht ganz aus dem Krisenmodus herausgefunden und versuchen, auch jenseits des Haushaltsverfahrens unterjährig zu helfen, wo es möglich ist.

Was zeichnet die Kulturlandschaft in Stuttgart im Besonderen aus?

Stuttgart ist mehrfach in Folge zur deutschen »Kulturhauptstadt des Jahres« vom Hamburger Weltwirtschaftsinstitut gewählt worden, und zwar auch mit der Begründung, dass es in keiner anderen Stadt zugleich eine so hohe Anzahl an Kulturproduzenten und auch an Kulturrezipienten gibt. Das ist eine Besonderheit, die eine breite Kulturlandschaft in Stuttgart bedingt. Sie finden über alle Genres, über alle Sparten hinweg etwas – von der Spitze bis in die Breite, von der Amateurkunst und -kultur bis zu höchst professionellen Ensembles. Diese Vielfalt ist Kennzeichen und Eigenwert für die Stuttgarter Kulturlandschaft. Das zeigt nicht nur die Stimmungslage in der Bevölkerung im Allgemeinen, sondern ebenso die Überzeugung und Haltung von Gemeinderat und Verwaltung: Kultur ist uns in dieser Stadt viel wert. Das erklärt auch, dass es gelungen ist, das finanzielle Engagement im Kulturbereich in den letzten Jahren deutlich auszubauen.

Was konnten Sie bisher erfolgreich als Kulturverantwortlicher in Stuttgart umsetzen?

Seit Beginn meiner Amtszeit ist es gelungen, eine Reihe von Beschlüssen zu fassen, um die Kulturlandschaft Stuttgarts nicht nur inhaltlich, sondern auch infrastrukturell zu bereichern. Da ist zum einen das geplante »Haus für Film und Medien« zu nennen – ein Projekt, das ich intensiv vorangetrieben habe und das wahrscheinlich einzigartig in Deutschland ist. Wir geben Medien und Film eine räumliche Verortung – aber nicht museal gedacht, sondern in Form eines Werkstatthauses, eines Reallabors, einer Destination und eines Treffpunkts. Nachdem der Architekturwettbewerb abgeschlossen ist, freuen wir uns auf den Baubeginn.

Gleichzeitig haben wir das Museum Hegel-Haus in Stuttgart komplett neu aufgestellt. Nicht nur die Ausstellung wurde durchgreifend verändert und erneuert, sondern das ganze Haus wurde saniert.

Persönlich konnte ich das Konzept unseres »StadtPalais – Museum für Stuttgart« auf den letzten Metern noch einmal ändern. Unser StadtPalais ist kein gewöhnliches stadtgeschichtliches Museum. Wir haben dieses Museum nun viel mehr zu einem Haus nicht nur der Vergangenheit, sondern genauso der Gegenwart und der Zukunft umgestaltet. Es ist ein Wohnzimmer für die Stadtgesellschaft, ein kultureller Hotspot in der Stadt und ein großer Anziehungspunkt vor allem auch für junge Leute mit Ausstellungen wie »Stuttgart am Meer« und Ähnlichem.

Zudem ist es gelungen, die Kulturförderung deutlich auszubauen. In den letzten beiden Haushalten hat der Gemeinderat Zuwachsraten von durchschnittlich 15 Prozent beschlossen, die wir für die gesamte Kulturlandschaft zur Verfügung stellen können. Das umfasst ca. 150 geförderte Kulturinstitutionen. Initiiert habe ich vor einiger Zeit zudem einen Innovationsfonds zur Kultur im öffentlichen Raum, der unseren Stadtraum auch außerhalb der Institutionen zur Bühne werden lässt und kulturell bereichert. Zum letzten Haushalt haben wir ferner eine Ausstellungsgrundvergütung für Künstlerinnen und Künstler, die in geförderten Kulturinstitutionen der Stadt ausstellen, eingeführt. Damit ist die Landeshauptstadt, neben Berlin und Hamburg, eine der ersten deutschen Großstädte, die die wichtige kulturpolitische Forderung einer angemessenen Mindesthonorierung von Kunstschaffenden in einem konkreten Vergabemodell umgesetzt hat. Unter sozialen Gesichtspunkten war das ein wichtiger Meilenstein.

Im Bereich der kulturellen Bildung ist der vom Gemeinderat initiierte und von der Kulturverwaltung rasch umgesetzte 100-Euro-Zuschuss an alle 16-Jährigen, den wir kürzlich eingeführt haben, zu erwähnen. Jeder Stuttgarter, jede Stuttgarterin, die ihr 16. Lebensjahr erreicht, bekommt von der Stadt Stuttgart automatisch einen 100-Euro-Kultur-Gutschein.

Schließlich haben wir in Stuttgart einen Grundsatzbeschluss für die Sanierung der Württembergischen Staatstheater herbeigeführt – der geht allerdings nicht auf Einzelne zurück, sondern ist die Arbeit von vielen auf unterschiedlichen Ebenen. Die Opernsanierung ist ein umstrittenes Projekt in Stuttgart und der Region, allein schon aufgrund der finanziellen Dimension. Trotzdem sind wir hier nach 20 Jahren Diskussion jetzt einen großen Schritt weitergekommen.

Wo gilt es weiterhin noch dicke Bretter zu bohren? Worein stecken Sie noch kulturpolitische Energie?

Im Bereich der kulturellen Infrastruktur gibt es den Wunsch eines neuen Konzerthauses. Auch das Linden- Museum, unser ethnologisches Museum, bedarf eines neuen Ortes. Beide Bedarfe sind bislang noch nicht in konkrete Beschlussfassungen umgesetzt. Wir sind noch im Diskussionsmodus.

Mit KUBI-S hat Stuttgart eine zentrale Koordinierungsstelle für alle Anliegen kultureller Teilhabe. Wie ist es um die kulturelle Teilhabe in Stuttgart bestellt? Welche Herausforderungen stellen sich?

Wir versuchen, die Hürden zu kultureller Teilhabe so niedrig wie möglich zu halten, beispielsweise indem wir in unserem neuen erinnerungskulturellen Haus, dem »Hotel Silber«, völlig auf Eintritt verzichten. Genauso nehmen wir in der Dauerausstellung im StadtPalais keinen Eintritt, sodass die finanziellen Hürden zum Besuch dieser beiden Häuser schon einmal minimiert wurden. Aber Teilhabe geht deutlich über das Finanzielle hinaus.

Wir versuchen durch Projekte, wie den genannten 100-Euro-Kultur-Gutschein für 16-Jährige, das Interesse an Kultur zu wecken. Und zwar nicht als Gegenstand einer Lernzielkontrolle im Schulunterricht – da ist das Vergnügen wahrscheinlich automatisch reduziert –, sondern wir versuchen, Kindern und Jugendlichen unbefangen einen Kulturgenuss zu ermöglichen. Wir haben übrigens neben dem Gutschein für die 16-Jährigen auch einen sogenannten »Startergutschein Kultur« für Erstklässler in Ganztagesgrundschulen eingeführt. Auf diese Weise bekommt die ganze Klasse ein Kulturerlebnis auf Kosten der Stadt.

Ein weiterer wichtiger Punkt für kulturelle Teilhabe ist das Thema Inklusion in der Stuttgarter Kulturlandschaft. Mit dem Festival »Funkeln inklusive« haben wir Inklusion im Kulturbereich mit vielen unterschiedlichen Veranstaltungsreihen, Institutionen und Organisationen, die von Menschen mit Behinderung geführt werden, in den Fokus gerückt.

Vor zwei Jahren wurde zudem eine Koordinierungsstelle Erinnerungskultur ins Leben gerufen. Was ist seitdem geschehen? Was soll noch angestoßen werden?

Zum einen haben wir das » Netzwerk Erinnerung Stuttgart« gegründet. Es gab bereits Kickoff- und Vertiefungsveranstaltungen, bei denen unsere Kulturverwaltung die Koordinierungsfunktion ausübt. In diesem Netzwerk versuchen wir, die Einrichtungen der Erinnerungskultur, also Museen, Archive, Gedenkstätten, Initiativen, Verbände und Experten zusammenzubringen. Zum anderen haben wir dem Ganzen einen räumlichen Mittelpunkt durch die Eröffnung eines Pop-up-Büros im Rathausareal gegeben, mit dem wir das Thema auch räumlich an der Stadtverwaltung verorten wollen. Es geht darum, ein Gesamtkonzept zu entwickeln. Die Sichtbarmachung von weißen Flecken ist eben nur ein Teil. Es gibt konkrete Projekte wie die Instandsetzung und Kontextualisierung polnischer Kriegsgräber auf dem Stuttgarter Hauptfriedhof. Wir wollen zudem den Birkenkopf, das ist der höchste Punkt Stuttgarts mit besonderem Hintergrund, in den Fokus nehmen. Denn dieser kleine Berg, im Volksmund »Monte Scherbelino« genannt, ist durch Weltkriegsschutt über sich hinausgewachsen. Wir wollen diesen Erinnerungsort deutlich aufwerten und auf die Stuttgarter Kriegsvergangenheit hinweisen. Gleichzeitig wollen wir die sogenannte doppelte Lücke im Rathaus bearbeiten: die Verfolgung von Gemeinderäten in der Zeit des Dritten Reiches, aber auch die Präsenz der Naziherrschaft im Rathaus. Das sind zwei Themen, die bisher hier nicht auftauchen und daher als doppelte Lücke empfunden werden. Hier wollen wir Abhilfe schaffen und die NS-Vergangenheit im Rathaus aufzeigen.

Weiterhin geht es um die Aufarbeitung der Stuttgarter Kolonialgeschichte. In diesem Rahmen haben wir ein Dissertationsprojekt in Kooperation mit dem Stadtarchiv und der Uni Freiburg finanziert. Sie sehen: Wir gehen das Thema Erinnerungskultur multiperspektivisch an.

Auf der Webseite stuttgart.de steht: »Tanz gehört zu Stuttgart wie das Pas de deux zum Ballett«. Wo steht der Tanz in Stuttgart aktuell?

Tanz hat durch die Ballett-Company des Stuttgarter Staatstheaters und die John Cranko Schule eine große Tradition in der Stadt. Selbstbewusst kann man sagen, dass das Stuttgarter Ballett eines der renommiertesten nicht nur Europas, sondern in der Welt ist. Wir haben den Tanz durch den Neubau der John Cranko Schule nochmal aufgewertet. Auch die klassische Ausrichtung des Balletts am Staatstheater hat in den letzten 15 Jahren eine Erweiterung durch unsere zweite professionelle und auch international bekannte Ballett-Company im » Theaterhaus«, Gauthier Dance, bekommen. Eric Gauthier hat diese Company mittlerweile wirklich stark gemacht, sodass sie eine große Markenbotschafterin der Stadt Stuttgart in der Region, aber auch in der Welt ist.

Neben diesen beiden professionellen Ballett-Companys gibt es eine immer sichtbarer werdende Freie Szene, die mittlerweile mit dem Produktionszentrum in Stuttgart-Feuerbach einen eigenen Ort bezogen hat. Und so ist Stuttgart eine weiter stärker werdende Tanzstadt. Dieses Profil hat sich in den letzten zehn, zwanzig Jahren noch deutlicher herausgebildet.

Stuttgart ist auch Autostadt. Welche Rolle spielt das für die Kulturszene in der Stadt?

Das hat verschiedene Dimensionen. Zum einen ist die Automobilindustrie oftmals ein guter Partner der Kultur. Nehmen Sie zum Beispiel Porsche als Hauptsponsor des Stuttgarter Staatsballetts! Aber zum anderen ist natürlich das Auto auch ein Desiderat der Kultur. In unserem StadtPalais hatten wir schon viele Befassungen mit dem Automobil. Stuttgart ist eben die Wiege des Automobils. Wir sind nicht nur die Heimstätte von Daimler und Porsche, sondern auch der Ort, an dem das Auto erfunden wurde. So wird das Auto als künstlerisches, als kulturelles Desiderat immer wieder von der Kultur reflektiert und rezipiert. Auch die Internationalität, die die Belegschaften der Automobilhersteller als internationale Großkonzerne mit sich bringen, hat Einfluss auf die Kulturlandschaft. Bei uns sind verschiedene interkulturelle Dachverbände beheimatet, wie das Forum der Kulturen, das es mittlerweile seit 25 Jahren gibt, aber auch das Deutsch-Türkische Forum seit 24 Jahren. In Stuttgart haben 46 Prozent der Menschen einen Migrationshintergrund. Die internationalen Belegschaften in der Automobilindustrie prägen das kulturelle Leben, aber auch den interkulturellen Dialog, den wir hier praktizieren.

Sie sind geborener Stuttgarter. Was ist Ihr Lieblingsort in Stuttgart? Haben Sie für unsere Leserinnen und Leser einen Kulturtipp?

Jetzt bin ich schon seit sechs Jahren Bürgermeister und das hat mich noch nie jemand gefragt. Für mich ist der schönste Ort in Stuttgart der Schillerplatz. Er ist eingerahmt von wichtigen Stuttgarter Gebäuden: zum einen dem Alten Schloss, das unser Landesmuseum Württemberg beinhaltet, aber auch von dem Fruchtkasten mit Instrumentenmuseum, von der Stiftskirche, die als Heimstätte des Protestantismus eine ganz besondere Bedeutung für Stuttgart und die Region hat. Und davon abgesehen ist es einfach ein wunderschöner Ort, an dem unser Stuttgarter Wochenmarkt stattfindet. Hier hat Stuttgart besonders viel Flair.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 7-8/2023.