Mächtige Bronzebrocken, rostbraun und erdig, hat der britische Bildhauer Tony Cragg für seine Skulptur »Stack« zusammengefügt. Übersetzt bedeutet der Titel »Stapel« und »Speicher« zugleich. Das Kunstwerk erinnert an die Rohstoffvorkommen und die 850 Jahre währende Bergbaugeschichte der Region Erzgebirge. »Stack« steht im Kurpark Aue-Bad Schlema und ist eine der neun bereits fertiggestellten Arbeiten für den Kunst- und Skulpturenpfad »Purple Path«. Es ist das größte Projekt der Europäischen Kulturhauptstadt. Chemnitz und 38 umliegende Kommunen werden dabei miteinander verbunden; im April 2025 ist Eröffnung. Noch dieses Jahr werden 20 Skulpturen hinzukommen. Insofern geht es sichtbar voran mit den Vorbereitungen. Unter dem Motto »C the Unseen« will die Kulturhauptstadt Verborgenes sichtbar machen. Das tut mitunter not. Denn von vielen seither ungesehen ist zum Beispiel, dass bereits seit fünf Jahren die Montanregion Erzgebirge/Krušnohoří zum UNESCO-Welterbe gehört. Eben das soll der »Purple Path« als kulturtouristische Attraktion thematisieren.
Dahingehend hat auch die »Kulturhauptstadt Europas Chemnitz 2025 gGmbH« den »Purple Path« auf dem Germany Travel Mart im April vermarktet. Die Messe fürs Reisen innerhalb Deutschlands wurde veranstaltet von der Deutschen Zentrale für Tourismus, der Chemnitzer Wirtschaftsförderungs- und Entwicklungsgesellschaft sowie der Tourismusmarketinggesellschaft Sachsen und fand in Chemnitz statt. »›C the Unseen‹ ist heute schon kulturtouristischer Magnet«, ist Stefan Schmidtke, Programmgeschäftsführer bei der ausführenden Kulturhauptstadt-gGmbH überzeugt. Die Pilotveranstaltungen brachten aufs Jahr betrachtet Zuschauerzahlen, die in die Hunderttausend gehen. Das ist für europäische Dimensionen zwar ein Klacks, wohl aber für die 250.000-Einwohner-Stadt ein Erfolg. Es ist alles gut in Gang gekommen.
Für das Hauptstadtjahr und darüber hinaus soll insbesondere die Stadtgesellschaft aktiviert werden. So stand es im Bidbook, mit dem sich Chemnitz ehemals um den Titel beworben hatte. Breit angelegte Beteiligung war dabei von Anfang an auch als bürgerliche Stärkung gegen die rechte Szene gedacht, die im August 2018 in Chemnitz nach dem gewaltsamen Mord an einem 35-Jährigen durch einen Syrer und einen Iraker zu rassistischen Protesten und Angriffen mobilisiert hatte. Die Idee hinter all den über so genannte Open Calls eingeholten Projektideen war, dass die »Stille Mitte« der Bevölkerung, die sich ansonsten nicht an politischen Debatten beteiligt, angeregt werden sollte, sich kulturell und gesellschaftlich einzubringen. Auch wenn der Begriff der »Stillen Mitte« unglücklich ist und im zweiten Monitoring-Report aus Brüssel wegen seines exkludierenden Charakters kritisiert wurde, hat Chemnitz sich seit der Titelvergabe gut positioniert. Den Rechten nämlich – den populistischen wie extremistischen –ist das Beteiligungskonzept ein Dorn im Auge. So hatten im Chemnitzer Stadtrat die Fraktionen der vom Verfassungsschutz unter Beobachtung stehenden »Freien Sachsen« und »Pro Chemnitz« im März 2024 einen Antrag zum Ausstieg aus der Kulturhauptstadt gestellt, was eine heiße Debatte auslöste. Der Antrag wurde aber mit großer Mehrheit abgelehnt. Für den Tag der offiziellen Eröffnung am 18. Januar 2025 haben die Kulturhauptstadtgegner eine Demonstration angemeldet. Mit eigenen Projektvorschlägen über Open Calls hat sich keine der rechtspopulistischen oder extremistischen Gruppen eingebracht. »Da trauen die sich nicht ran«, ist Stefan Schmidtkes Erfahrung. Die Gegner wollen stören. Sie attackieren und verunglimpfen das Projekt in sozialen Medien. In politischen Gremien folgen sie der Taktik, abzulehnen und sich nicht zu beteiligen.
Dass die Chemnitzer trotz dieser Hetze so viele Beteiligungsprojekte an den Start bringen werden, ist ein gutes Zeichen. Aus anfangs ca. 70 Projekten aus dem Bidbook sind jetzt durch Open Calls, Beteiligungsverfahren und Ausschreibungen nochmal ca. 60 neue Projekte aus der Stadtgesellschaft hinzugekommen. Sie teilen sich thematisch auf in die Bereiche Zivilgesellschaft, Generationenarbeit, Tschechisch-Deutsch-Polnische Zusammenarbeit und Urbane Populärkultur. Wenn bei der Umsetzung alles klappt, präsentiert Chemnitz zur großen internationalen Jahrespressekonferenz am 25. Oktober über 120 Projekte, mit denen man ins Kulturhauptstadtjahr starten wird. Unterm Strich ist der Rückhalt der Chemnitzer für 2025 groß.
Das gilt prinzipiell auch für Holm Krieger, seit letztem Jahr Geschäftsführer des Soziokulturellen Zentrums Kraftwerk e. V. in Chemnitz und von Anfang an beim Ideensammeln für Europas Kulturhauptstadt dabei. Doch in Erinnerung an die damalige Begeisterung, als Chemnitz den Titel holte, und im Rückblick auf einige seiner Meinung nach guten Vorschläge, die von der Kulturhauptstadt-gGmbH verworfen wurden, ist Holm Krieger in seiner Vorfreude gehemmt. »Über manches wundere ich mich«, sagt er offen. Da sei etwa die Anfrage nach Räumlichkeiten, die sein Haus für ein Projekt vom »Team Generation« und dessen Jugendprogramm »Create:u« zur Verfügung stellen soll. Dabei geht es um die Zusammenarbeit von jüngeren mit älteren Menschen und die Frage, wie sie gemeinsam Kulturprojekte konzipieren, strukturieren und finanzieren können. Im Kraftwerk brauchen die Macher nun Räume für eine Seniorentanzgruppe. »Das finde ich gut, und wir vermieten auch gerne«, meint Holm Krieger, »aber wir haben bei uns schon seit Langem fünf aktive Seniorentanzgruppen.« Solche Doppelung mache ihn stutzig. Erst habe es geheißen, bei den Projekten zur Kulturhauptstadt liege der Fokus auf Innovationen und Neuem. Einigen Kulturschaffenden vor Ort sei es deshalb schwergefallen, sich – jenseits ihres alltäglich laufenden und bewährten Kulturbetriebs – mit zusätzlichen, erstmaligen Projekten einzubringen. Doch dann stelle sich heraus, dass manche Projekte keine Innovationen, sondern alten Wein in neuen Schläuchen servieren werden. Beim Kraftwerk e. V. selbst laufe es mit dem Projekt »Mangarage« ähnlich. Man ist seit Jahren Hotspot für die Manga-Szene und hat in der Vergangenheit schon häufig zu Comic-Workshops, zu japanischem Trommelfest, zu Kostümschau und mehr eingeladen. 2025 soll es das auch geben. Nur gerne größer und gerne auch das, was man sich schon immer gewünscht hat.
Nach ersten Treffen der Seniorentänzerinnen und -tänzer und Eindrücken, die Holm Krieger mitbekommen hat, folgt die neue Gruppe doch einem etwas anderen, eher künstlerischen Fokus und unterscheidet sich damit von den bereits bestehenden Gruppen. »Ich bin gespannt, die Vorhaben entwickeln sich ja erst nach und nach«, so Holm Krieger. Seine »Mangarage« klinkt sich ein in das von der Kulturhauptstadt groß gefasste Flagship-Vorhaben »#3000Garagen«. Zu DDR-Zeiten haben viele Chemnitzer ihre Garage nicht nur als Stellplatz fürs Auto genutzt, sondern sie auch zur Bastelwerkstatt, zum Treffpunkt für die Nachbarschaft oder zur Ideenschmiede für verschiedenste Leidenschaften gemacht. Der Künstler Martin Maleschka beispielsweise sammelt derzeit für eine Installation alle möglichen Gegenstände von Menschen, die ihm als lebendiges Archiv die dazugehörigen Geschichten erzählen, über Autofelgen, Trabi-Rücklichter, Schraubensammlungen und mehr. Wie und in welchem Umfang sich Holm Kriegers »Mangarage« dort einsortiert, ist noch nicht ganz klar.
Leider sind Ideenwettbewerbe und Anträge für die Kulturszene oft mit Anstrengung, auch mit Beschwernissen verbunden. Dass es an manchen Stellen bei der Kulturhauptstadt genauso lief, führte vereinzelt natürlich zu Enttäuschung. Vor allem diejenigen, deren Vorschläge für sogenannte 2.500-Euro-Mikroprojekte nach mehrmaligen Runden und Überarbeitungen von der achtköpfigen Jury abgelehnt wurden, werden mit schlechten Erinnerungen ins Kulturhauptstadtjahr starten. Zu überlegen wäre, ob bei derartigen Verfahren zukünftig ein »Enttäuschungsmanagement« gleich mitgeplant werden kann. Ansonsten mischt sich sachliche Kritik schnell mit gefühlter »Miesepeterstimmung«.
So war bei Gegnern die Häme groß, dass etwa das begonnene Projekt der auf einer kilometerlangen Linie gepflanzten Apfelbäume »We parapom!« gestoppt werden musste. Es war in der angedachten Idee nicht zu realisieren: Mal waren die Bodenbeschaffenheiten ungeeignet, mal die Besitzverhältnisse des Standorts unklar, mal fehlten Setzlinge. Nun hat das Projekt den abgeänderten Namen »Gelebte Nachbarschaft« erhalten und es wird dort gepflanzt, wo Eigentümer das gerne wollen und es werden nicht nur Apfelbäume, sondern alle möglichen Pflanzen gesetzt.
Was sich in Chemnitz in der Vorbereitung abgezeichnet hat, ist eine gewisse Kluft zwischen den stadtgesellschaftlich Engagierten und den Profis des Kulturbetriebs. So hat beispielsweise Florence Thurmes zum Jahresbeginn die Stelle als neue Generaldirektorin der Kunstsammlungen Chemnitz angetreten, nachdem ihr Vorgänger Frédéric Bußmann 2023 einer anderen Position in Karlsruhe wegen gekündigt hatte, inmitten der Vorbereitungen auf das einmalige Stadtereignis. Im Bereich der Laien, bei einer freien Chemnitzer Theatergruppe etwa, einem Chor oder einer Band wäre ein solcher Wechsel entweder unwahrscheinlich oder das sichere Aus. Nicht so bei den Kunstsammlungen. Florence Thurmes hat vom Team eine bestens strukturierte Übergabe erhalten. »Ich bin in Chemnitz gut angekommen und wir können die begonnenen Vorhaben hervorragend weiterführen«, so Thurmes. »European Realities« beispielsweise im Museum Gunzenhauser wird eine Überblicksausstellung mit über 200 Leihgaben zu Realismusbewegungen der Bildenden Kunst in Europa. Eine weitere Ausstellung nimmt den Chemnitzer Besuch des Malers Edvard Munch von 1905 zum Anlass für das Thema »Angst«, das von verschiedenen künstlerischen Positionen aus beleuchtet werden soll. Weitergeführt wird schließlich auch der »Open Space« der Kunstsammlungen am Karl-Marx-Platz. Das ist ein Raum, wo Vereine und Initiativen Veranstaltungen durchführen können, zu Demokratiebildung, zu interreligiösem Dialog und mehr. »Das gab es schon vor den Planungen zur Kulturhauptstadt«, sagt Thurmes: »Aber 2025 wird man auf alles in der Stadt nochmal einen neuen Blick haben.« Davon werden die Kunstsammlungen und auch ihr Open Space, die den Toleranzgedanken in sich tragen, profitieren.