Mit der MeToo-Bewegung wurde im Bereich von Kultur und Medien eine neue Epoche der Aushandlung sicherer Arbeitsbedingungen eingeläutet. Neue Formen des Nachdenkens über das Miteinander, über Grenzen, Verantwortung und Schutz wurden möglich. Seit 2017 wird zunehmend die Frage nach Schutzlücken und Möglichkeiten der präventiven Veränderung von Strukturen laut. Prävention ist nach vorne gerichtet, sie soll – lateinisch prae-venire – zuvor-kommen. Wie kann sie im Bereich der Künste gelingen, wie können Kunst-, Kultur- und Medienschaffende aller Generationen wirksam geschützt werden vor Grenzüberschreitungen, Übergriffen und Gewalt? Wie sieht eine sichere Zukunft des Miteinanderarbeitens und Kunstschaffens aus? Braucht es womöglich unterschiedliche Modelle? Der Dialogprozess »Respektvoll Arbeiten in Kunst, Kultur und Medien« des Deutschen Kulturrates ist ein Beispiel für starke branchenweite Zusammenschlüsse zu diesen Fragen. Das Prozesshafte verdeutlicht, dass die Suche nach Lösungen Zeit und Verbindlichkeit benötigt; der Dialog unterstreicht die notwendige Multiperspektivität.
Das Problemfeld sexualisierter Gewalt in der Kunst-, Kultur- und Medienbranche
Ein erster Schritt für Präventionsentwicklung ist die genaue Kenntnis des Problembereichs bestimmter Phänomene. Dass es in der Branche eine Problematik mit sexualisierter Belästigung und Gewalt gibt, ist inzwischen unstrittig. Auch wenn Grenzüberschreitungen am Arbeitsplatz in allen Branchen auftreten: Bestimmte Aspekte der Arbeit im Kulturbereich sind spezifisch. Dazu gehören die immense Bedeutung informeller Netzwerke, die sehr verbreitete befristete Projektarbeit, teilweise große körperliche und emotionale Nähe im Arbeitskontext. Sie können (sexualisierte) Grenzüberschreitungen begünstigen.
Erfahrungen Betroffener – veröffentlichte wie auch nicht publik gemachte –, medialer und brancheninterner Diskurs sowie Erfahrungswerte von Anlaufstellen wie dem Berliner Projektbüro Diversity Arts Culture oder der Vertrauensstelle Themis verdeutlichen die systemischen Aspekte des Problems. Auch diverse wissenschaftliche Untersuchungen aus Deutschland liegen vor. Zum Beispiel ein Forschungsprojekt (veröffentlicht 2023) im Auftrag Der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, umgesetzt durch die Arbeitsgruppe »wirksam regieren« des Bundeskanzleramtes. Hier wurden Kulturschaffende unterschiedlicher Sparten zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz befragt. 46 Prozent der (repräsentativ) Befragten berichteten, in den letzten drei Jahren damit konfrontiert gewesen zu sein. Zum Vergleich: In einer Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes vier Jahre zuvor berichteten 9 Prozent der Befragten – über alle Branchen in Deutschland hinweg – von solchen Erfahrungen. Eine knappe Hälfte der befragten Kulturschaffenden konnte zudem keine ihnen bekannte Schutzmaßnahme im Falle von sexualisierter Gewalt benennen. Ein weiteres Beispiel ist die Studie des Bündnisses »Vielfalt im Film« von 2021: 51 Prozent der befragten Filmschaffenden berichteten hier von Diskriminierungserfahrungen in Arbeitssettings der letzten zwei Jahre. Am häufigsten handelte es sich um geschlechtsbezogene, altersbezogene oder rassistische Diskriminierung. Die meisten Betroffenen zogen es vor, sich nicht am Arbeitsplatz darüber zu beschweren, auch aus Sorge vor ausbleibenden Engagements oder negativen Konsequenzen.
In meinem Forschungsprojekt zu künstlerischen Hochschulen zeigen sich Problembereiche und Schutzlücken spezifisch in Bezug auf junge Kunstschaffende. Erste Ergebnisse verdeutlichen, dass marginalisierte Personen, z. B. Studierende mit Sorgeverantwortung oder Personen marginalisierter Geschlechts- oder sexueller Identitäten, stärker von grenzüberschreitendem Verhalten betroffen sind. Sie berichten auch von stärkerer psychischer Belastung durch diese Erfahrungen. Außerdem beleuchten die qualitativen Studienergebnisse, wie wichtig und zugleich rar Reflexionsräume zu Normen und Narrativen der künstlerischen Arbeit sind – spezifisch für bestimmte Zielgruppen und Karrierephasen. Studierende lernen oft in engen, vermeintlich familiären Kontexten und einem Abhängigkeitsgefälle zu erfahreneren Kunstschaffenden und Lehrenden an künstlerischen Hochschulen: Netzwerke und soziales Kapital müssen erst erschlossen werden. Bei Lehrenden wiederum zeigt sich ein spezifischer Mangel an Räumen, um Glaubenssätze hinsichtlich der eigenen künstlerischen Biografie auszutauschen und kritisch zu hinterfragen. Im Bereich der Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsangebote fehlt es häufig an Ressourcen, konkreten Handlungsspielräumen und langfristiger Planungsmöglichkeit, um präventive Maßnahmen zu verstetigen, Wissen nachhaltig zu teilen und Hochschulangehörige vertrauensvoll zu erreichen. Künstlerische Hochschulen als vielschichtige Ökosysteme zeigen also spezifische Bedarfe im präventiven Bereich. Wie können solche Erkenntnisse von den verantwortlichen Institutionen in wirksame Maßnahmen übersetzt werden?
Zunehmend entstehen in der Kultur- und Medienbranche Modellprojekte, Betriebs- und Dienstvereinbarungen und Schutzkonzepte. Viele Organisationen, Institutionen und Verbände haben sich auf den Weg gemacht, insbesondere primärpräventive Angebote zu verankern – also Maßnahmen, die sensibilisieren und aufklären. Sie sollen sexualisierter Gewalt zuvorkommen und Übergriffe an Bühnen, Filmsets oder zwischen Orchestermitgliedern gar nicht erst entstehen lassen. Auch sekundär- und tertiärpräventive Maßnahmen wie Schulungen zu Selbstschutz und Deeskalation sowie Beschwerdestellen bei erfolgten Übergriffen sind zunehmend vorhanden. Das ist nicht zuletzt auch arbeitsrechtlich relevant: Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz verpflichtet Arbeitgebende zu präventiven Maßnahmen.
Ob diese wirken – Übergriffe verhindern, Personen stärken, Reflexion fördern – lässt sich nur mit belastbaren empirischen Daten überprüfen. Diese sind aktuell noch rar. Spezifisch für die Kulturbranche gibt es bislang nur punktuell und oft lediglich interne Evaluationen der vorhandenen Maßnahmen gegen sexualisierte Gewalt. Evidenzbasierte Präventionsangebote, wie sie für andere Bereiche vorliegen (z. B. sogenanntes Bystander Training gegen sexualisierte Gewalt an Universitäten, das die Gemeinschaft Studierender auf unterstützendes Einschreiten vorbereitet), sind bisher kaum vorhanden. Diese Lücke sollte in den kommenden Jahren dringend geschlossen werden.
Hierzu sind in erster Linie finanzielle Ressourcen notwendig. Damit Forschungsprojekte fundierte Ergebnisse und ein besseres Verständnis von Wirksamkeitsbedingungen hervorbringen können, braucht es personelle und zeitliche Kapazitäten. Grundsätzliche Leitlinien für die Gestaltung von wirksamer Prävention können bei der Planung hilfreich sein. Laut einer umfassenden Analyse der Erfolgsbedingungen präventiver Maßnahmen von Maury Nation und Team von 2003 haben die wirksamsten Präventionsprogramme die folgenden Grundsätze gemeinsam: Sie sind theoriegeleitet, werden in ausreichendem Umfang und zu einem passenden Zeitpunkt von geschultem Personal angeboten, sind umfassend und haben Relevanz für den spezifischen soziokulturellen Rahmen. Auch beinhalten sie abwechslungsreiche Lehrmethoden, bieten Möglichkeiten für positive Beziehungen und werden hinsichtlich der Ergebnisse evaluiert.
Eine ganzheitliche Herangehensweise an Prävention sexualisierter Gewalt bietet zudem das ökologische Modell, orientiert an der Arbeit von Uri Bronfenbrenner. Spezifische Kontexte – beispielsweise Hochschulen – werden als Ökosysteme mit mehreren Ebenen betrachtet, Präventionsmaßnahmen entsprechend auf unterschiedlichen Leveln angesiedelt. Sowohl die individuelle Verhaltensebene als auch die Gruppen- und Communityebene werden in den Blick genommen und jeweils theoriebasierte Interventionsstrategien miteinander verzahnt. Für die unterschiedlichen Branchensektoren ist es sinnvoll, sich an vorhandenen evidenzbasierten Programmen anderer Kontexte zu orientieren, um sie für den jeweiligen Bereich entsprechend den Prinzipien guter Prävention anzupassen. Vielversprechend wäre die partnerschaftliche Zusammenarbeit von Institutionen der jeweiligen künstlerischen Sparten mit gesundheitswissenschaftlichen Forschungsinstituten mit Expertise zur Prävention sexualisierter Gewalt.
Nicht zuletzt ist von zentraler Bedeutung, die Kunstschaffenden der jeweiligen Sparte, des jeweiligen Gewerks zu beteiligen: von Beginn der Konzeption an und im gesamten Prozess der Entwicklung, Umsetzung bis hin zur Evaluation. Commitment und Verantwortungsübernahme auf Führungsebene werden so verknüpft mit einer Orientierung an Perspektiven potenziell Betroffener aus erster Hand. Hier gilt das Prinzip der Behindertenrechtsbewegung: »nothing about us without us«. Da marginalisierte Personen und Menschen, die strukturelle Benachteiligung erfahren – unter anderem aufgrund von Behinderung, Geschlecht, Rassifizierung, sozialer Herkunft –, stärker betroffen sind, brauchen sie besondere Berücksichtigung. Präventionsangebote und schon der Prozess ihrer Entwicklung müssen diese besonderen Schutzbedarfe intersektional in den Blick nehmen, spezifische Ansprachen schaffen und jeweilige Zielgruppen inklusiv einbeziehen.
Zukünfte: Gemeinsam und im Plural denken
Gemeinsame Grundsätze und geteilte Prinzipien dessen, was gutes Arbeiten in Kultur und Medien bedeutet, bilden eine wichtige Grundlage. Auch einheitliche Begrifflichkeiten von Prinzipien fairer Arbeit, Arbeitssicherheit, ethischen Standards ebenso wie verfügbare Codes of Conduct sind elementare Referenzpunkte. Ein wichtiger weitergehender Schritt ist, diese gemeinsamen Grundlagen bedarfsgerecht aufzufächern und zu schärfen. Benötigt werden zielgruppenspezifische Angebote, die an die unterschiedlichen Bedürfnisse der Sparten und verschiedenen künstlerischen Communities angepasst sind – je nach spezifischen Risiken, beruflichen Anforderungen und Routinen sowie soziodemografischer Zusammensetzung. Die jeweiligen Maßnahmen sollten partizipativ erarbeitet, langfristig implementiert und nach wissenschaftlichen Kriterien evaluiert werden. Das benötigt Ressourcen und stabile Projektpartnerschaften. Um mit dem heutigen Wissen um Missstände und Problembereiche wirksame Präventionsmaßnahmen der Zukunft zu implementieren, gibt es kein Universalmodell. Stattdessen sind vielfältige Perspektiven und Ansätze vonnöten: Zukünfte, im Plural.
Good Practice: Maßnahmen und Instrumente für diskriminierungssensibles und respektvolles Arbeiten
Auf der Webseite des Arbeitsfelds Frauen in Kultur & Medien des Deutschen Kulturrates finden Sie eine Auswahl an Richtlinien und Initiativen aus Kultur & Medien für eine Arbeitskultur voller Toleranz, Vertrauen und Respekt. Hier werden Strategien, Handlungsempfehlungen, Leitbilder und Praktiken gelistet, die bereits umgesetzt oder zeitweilig erprobt wurden: Sie finden dort Maßnahmen zur Verbesserung der Geschlechtergerechtigkeit und Richtlinien, die verschiedensten Diskriminierungsformen wirksam entgegentreten.
Eine aktuelle Liste der Kodizes finden Sie hier.