Zu den Schockwirkungen, die der Überfall Putins auf die Ukraine ausgelöst hat, gehört auch das Erschrecken darüber, wie sehr man sich geirrt hat, wie wenig man mit einer solchen Zuspitzung rechnen wollte. Aber das haben Zeitenwenden, nun einmal so an sich, dass plötzlich nichts mehr so ist, wie es war und man über sein früheres Urteil erschrickt. Wir erleben jetzt wirklich, was Disruption heißt, jenes Modewort, das wir lange nur aus den Transformationslehrbüchern kannten. Denn der Umbruch, den wir gerade erleben, verstört mehr als alles, was wir lange Zeit kannten; und die Empörung ist groß, mit der das jetzt konstatiert wird. »Ihr habt Eure, Ihr habt unsere Geschichte verpfuscht«, hat der alte Revolutionsdichter Georg Herwegh den gescheiterten Märzrevolutionären einst verbittert nachgerufen. Ein Satz, der eine neue Gültigkeit bekommt.

Die unbeirrbare Sonja Zekri wundert sich in der Süddeutschen Zeitung darüber, »warum so viele plötzlich feststellen, dass die Russen immer schon des Teufels waren«. Und sie holt die vergifteten alten Knochen hervor, die schon immer als Beweismittel dienten für solche Thesen. Denn dass »zwischen Woronesch und Wladiwostok mehr oder minder gestörte psychische Wracks leben«, behauptete der Publizist Gerd Koenen schon lange. Und was er für das »psychomentale Syndrom« der Russen hielt, kann man auch als ihren »imperialen Phantomschmerz« beschreiben. »Der Fluch des Imperiums« hat der Münchner Osteuropahistoriker Martin Schulze Wessel sein neuestes Buch genannt. Und auch wenn er sich gegen diesen hanebüchenen Titel hätte wehren müssen, so warnt er doch zugleich vor der Lesart einer »durchgehend gewaltbetonten Tradition« in der russischen Geschichte.

Man muss Schulze Wessel auch zugutehalten, dass er nicht erst am Ende seines Forscherlebens die Ukraine entdeckt. Aber den fast panischen Paradigmenwechsel der Osteuropageschichtsschreibung kann man gerade exemplarisch im jüngsten Heft der renommierten Jahrbücher für Geschichte Osteuropas erleben. Dort zieht das Fach selbstkritisch Bilanz. Dort spricht man von der Zeitenwende im Verhältnis zu Russland und beruft sich auf die Exilstimme der Internetzeitschrift »Meduza«, wonach die Nähe zu Russland die tragende Konstruktion war, auf der »die Identifikation des gegenwärtigen Deutschlands beruht«. Das ist sehr freundlich formuliert. Der amerikanische Historiker Timothy Snyder spricht da viel unversöhnlicher. Für ihn ist die deutsche Missachtung der Ukraine nichts anderes als eine verkrümmte Schonhaltung gegenüber der eigenen Schuld.

Man kann sich im Nachhinein tatsächlich nur wundern, wie wenige Studiengänge für ukrainische Sprache und Geschichte es in Deutschland überhaupt gibt. Zu Anfang des Krieges mussten die verdienstvollen Bücher des Wiener Emeritus Andreas Kappeler die Verlagslücken schließen; und selbst die blutigen Kapitel in der deutsch-ukrainischen Geschichte waren – worüber sich Timothy Snyder zurecht empört – nur den wenigsten in unserem Land noch bekannt. Insofern kann man die eilige Kehrtwende unter den Osteuropahistorikern nur als eine längst überfällige Korrektur sehen.

Aber die wissenschaftliche Neubesinnung auf die Ukraine ist nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite schießt plötzlich eine krisengewandte Publizistik aus dem Boden, die immer schon alles gewusst und vorhergesagt haben will. Solche warnenden Stimmen gab es tatsächlich; und wir haben sie häufig mit Fleiß überhört. Trotzdem bekommt man inzwischen den Eindruck, dass sich das Rechthabenwollen in dieser Frage noch selbst übertrifft. Es erscheint wie öffentliche Selbstgeißelung; aber natürlich ist es auch der durchsichtige Versuch, so schnell wie möglich an die Spitze der Meinungskohorte zu kommen. Die Schar der Ukraineversteher jedenfalls wird von Tag zu Tag größer.

Doch wie so häufig ist es auch hier wie mit dem Kind und dem Bade. Mit einem Mal steht das halbe Jahrhundert Entspannungspolitik auf der Verdachtsliste und die Hinterlassenschaft Brandts wird Makulatur. Plötzlich erscheinen die sozialdemokratischen Friedensgewinnler im Dunstkreis Hannovers als tragischer Endpunkt einer schon immer verfehlten Ostpolitik. Was den Historiker Joachim Käppner zu der ärgerlichen Bemerkung veranlasst hat, es sei wohl jetzt Mode geworden, auf Willy Brandts Erbe und Erben herumprügeln zu wollen. Die Bonner Osteuropa-Historikerin Katja Makhotina warnte schließlich zurecht, die Historie jedes Mal umzuschreiben, wenn »es die Tagespolitik erfordere«.

Aber genau darin liegt das Problem. Seit Jahren schon geht ein Gespenst um in den Erinnerungskulturen unserer Zeit. Man nennt es den Präsentismus. Dieses Gespenst beruft sich zwar immerfort auf die Vergangenheit, aber möchte sich am liebsten nur selbst begegnen. Den »Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit« hat das der Afrikaspezialist Andreas Eckert unlängst genannt und meinte damit den gerade heftig entflammten Streit, um die Bedeutung des Schwarzen Amerikas für die Geschichte der Vereinigten Staaten. Von den neuen Geschichtskriegen spricht der amerikanische Publizist David Frum, von dem auch das Wort von der Achse des Bösen stammt.

Als der Präsident des amerikanischen Historikerverbands, James H. Sweet, ein Fachmann auf dem Gebiet der afrikanischen Diaspora in der Kolumne seiner Hauszeitschrift die berechtigte Frage stellte, ob man Geschichte heute überhaupt noch als Geschichte verstehen könne, wenn man die Vergangenheit ständig durch die moralische Brille der Gegenwart zu betrachten versucht, brach ein Sturm der Empörung los – nicht zuletzt unter den eigenen Kollegen. Sweet sah sich daraufhin in einer Author’s Note genötigt, sich wortreich zu entschuldigen und zerknirscht einzugestehen, weit über das Ziel hinausgeschossen zu sein; was seine Kritiker nicht davor zurückhielt, sogar vom Selbstmord des amerikanischen Historikerverbands zu sprechen.

Es ist nun freilich eine Binsenweisheit, dass Historiker immer in ihrer jeweiligen Gegenwart schreiben, und jede Zeit, wie der alte Revolutionsdichter Georg Herwegh es formulierte, nicht nur ihre eigene Geschichte habe, sondern auch ihre »eigenen Ansicht von der früheren Geschichte«. Aber die Geschichtswissenschaft hat sich doch im Laufe der Zeit ein veritables Methodenbesteck zurechtgelegt, um sich vor den simpelsten hermeneutischen

Missverständnissen gegenüber ihrem Gegenstand, der Vergangenheit, zu bewahren. Und das gilt in ganz besonderem Maß für den Umgang mit der Geschichte der Anderen, die uns zuweilen in doppelter Hinsicht fremd erscheint, historisch genauso wie kulturell.

Um den Bogen zu schlagen: Zu den Verheerungen, die dieser Krieg in der Ukraine nach sich zieht, gehört eben auch das Zerbrechen eines globalen, um nicht zu sagen: universalen Diskursraums, in dem auch wir immer wieder lernen müssen, Vergangenheit neu zu verhandeln. Wir registrieren, wie Geschichtsdeutung wieder zur Waffe wird und plötzlich wieder Verständnisgrenzen auf die politischen Fronten folgen. Und wir geraten womöglich selbst in Gefahr, die Vergangenheitsmythen auf russischer Seite mit modernen Gegenwartsnarrativen zu kontern. Der Überfall Putins auf die Ukraine markiert das bittere Ende einer lang gehegten Hoffnung, sich doch noch verstehen und verständigen zu können. Daraus aber eine negative Folgerichtigkeit ablesen zu wollen, eine Teleologie des Gegenwärtigen, wie es James H. Sweet nennt, aus der es kein Entrinnen je gab, wäre doch zu einfach gedacht. Wir sollten uns vor jenem wohlfeilen Präsentismus bewahren, der selbst für die Vergangenheit keine Alternativen mehr kennt.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2023.