Bei meinen allerersten Berührungen mit dem Country Blues bin ich auf den legendären Gitarristen Mississippi John Hurt gestoßen. Es muss wohl bei AFN gewesen sein, dem amerikanischen Soldatensender, durch den meine Generation musikalisch sozialisiert wurde. Der Name sagte mir damals nichts, aber die Songs, die man aus den späteren Cover-Versionen kannte, das lässige Gitarrenspiel – Fingerpicking, wie es die Spezialisten nennen – und die raue Art des Vortrags haben mich fasziniert, geflasht, wie man heute sagen würde. Die Begeisterung für Mississippi John Hurt hat mich nie mehr verlassen. Erst sehr viel später habe ich auch ein Bild jenes freundlichen alten Mannes gesehen mit der Gitarre auf der Veranda vor seiner Hütte in Avalon, im tiefsten Süden von Mississippi. Dort hat ihn der Blues-Enthusiast Tom Hoskins Anfang der 1960er Jahre wiederentdeckt. Mit einem Auftritt auf dem berühmten Newport Folk Festival begann eine kurze, späte Karriere. Mississippi John Hurt hat Blues-Geschichte geschrieben.
Man kann sich sein unverhofftes Wiederauftauchen auf der großen Bühne von Newport im Festivalfilm von Murray Lerner ansehen. Es sind sehr verschiedene Welten, die da aufeinandertreffen. Der alte, längst vergessene Mann aus dem Süden und um ihn herum die weiße Musikindustrie. Sein Name, John Smith Hurt, war den Markenstrategen zu schlicht gewesen. Sie haben ihn lieber »Mississippi« genannt. War das schon kulturelle Aneignung? Oder nur der übliche Kommerz, den der Musikkritiker der Chicago Sun-Times damals als »herrlich unterhaltend« empfand?
Ich habe noch die Szenen aus dem Festivalfilm vor Augen, wie viel Ehrfurcht diesem großartigen Künstler in Newport entgegenschlug. Aber wem galt das wirklich? Dem Musiker, der sich sein Gitarrenspiel selbst beigebracht hatte, oder vielmehr dem Mythos vom traurigen, erdigen Blues und der bitteren Expression eines authentischen Lebens. Vielleicht ging es auch um die Wurzeln, die der weiße Blues eben nicht hat.
Der Zürcher Popkolumnist Ueli Bernays hat kürzlich daran erinnert, wie sehr die Beschäftigung weißer Musiker mit ihren Schwarzen Vorbildern von Respekt und großer Bewunderung getragen war. Wer darin nur Klauen und Stechen sehen will, verschließt die Augen vor jener grandiosen Form von Anverwandlung, aus der eine globale Popkultur hervorging, die keine kulturellen Intransigenzen mehr kennt. Die »Schwarze Musik«, sagt Bernays, ist zur Taktgeberin des globalen Pop geworden: »Die ganze Welt hört ihr heute zu.«
Man sollte also besser die Popleute fragen, wenn man in jener von Kulturaktivisten losgetretenen Debatte um kulturelle Aneignung wieder Boden unter die Füße bekommen möchte. Und man sollte zuallererst das kleine Büchlein lesen, das der Pop-Philosoph Jens Balzer jetzt bei Matthes & Seitz veröffentlicht hat. Es ist eine fulminante Ehrenrettung dessen geworden, was man im globalen Jargon »Cultural Appropriation« nennt.
Für Balzer ist sie gar nichts Verwerfliches, sondern das Grundprinzip aller Kultur. Die Geschichte der Popmusik, wie überhaupt jede Form künstlerischer Arbeit, wäre ohne Vorbilder, ohne Einflüsse, ohne den hemmungslosen Rückgriff auf das globale Repertoire gar nicht denkbar gewesen. Balzer verschweigt auch nicht, dass dieser Prozess fast nie auf Augenhöhe verlief; dass er von ungleichen Machtverhältnissen bestimmt war und der Logik der Unterdrückung. Unablässig wurde »Geschichte im Sinne der Macht umgeschrieben«. Und die war eben weiß. »Unsere Musik, unsere Mode, unsere Frisuren, unsere Tänze, unsere Körper, unsere Seele – das alles«, hatte der Schwarze Musikjournalist und Hip-Hop-Chronist Greg Tate einst geklagt, »haben sie schon immer wie reife Früchte behandelt, die an einem Obstbaum am Wegesrand hängen und die man also einfach so abpflücken kann«. Es gibt freilich auch eine andere Bemerkung von ihm, die viel spöttischer und selbstbewusster klingt; Diedrich Diederichsen hat sie in den 1990er Jahren notiert. »Ich liebe es«, soll Greg Tate über die weiße Hip-Hop-Begeisterung gesagt haben, »wie das Zeug bei Euch Verwirrung stiftet.«
Aber wie will man diesen souveränen Ton Leuten beibringen, die sich über Dreadlocks bei Weißen aufregen, über missglückte Winnetou-Adaptionen oder die identitätspolitisch korrekte Übersetzung einer amerikanischen Lyrikerin? Wer jede kulturelle Begegnung nur als Ausbeutung verstehen will, der verharrt eben weiter in seinem identitären Bunker.
Was Balzers Büchlein dagegen so besonders macht, ist der Umstand, dass der Autor nicht in den fundamentalistischen Graben steigt; dass er sich an keiner Ästhetik des Diversen versucht, sondern eine Theorie des positiven Aneignens formuliert, als eine Art »Counter Appropriation«. Es ist die bislang beste Antwort auf eine fast nur noch in sich selbst kreisende Debatte geworden.
Balzer begnügt sich nicht mit der Erkenntnis, dass sich Gesellschaften notwendigerweise immer kulturell ausgetauscht haben, es mithin reine, mit sich selbst identische Kulturen gar nicht gibt. Er verfolgt eine andere Spur, auf die ihn ein kleiner Text von Gilles Deleuze über den Dichter Walt Whitman und die Kunst des Fragments gebracht hat, wo dieser dem europäischen Hang zur organischen Totalität den amerikanischen Sinn für das Fragment gegenüberstellt. Die fragmentarische Kunst sei Ausdruck einer fragmentarischen Gesellschaft, die aus Minderheiten bestehe und das auch von sich weiß.
Lassen wir einmal dahingestellt, ob dies eine wirklich zutreffende Beschreibung der amerikanischen Wirklichkeit ist, so verhilft das Beispiel Balzer dazu, im Hip-Hop und seinen Techniken des Sampelns und Fragmentierens die ästhetische Widerspiegelung einer Gesellschaft zu erkennen, »die sich selbst als heterogen und nicht identisch versteht«.
Man wird sich wohl daran gewöhnen müssen, dass auch Popleute in jene mühsame Sprache verfallen, die kulturalistischen Debatten so eigen ist. Aber die kühne Umkehr des Aneignungsvorwurfs in eine Theorie fragmentarischer Praxis und hybrider Identitäten, ist fulminant und beeindruckend zugleich.
Er hätte es dabei bewenden lassen sollen. Denn er vergaloppiert sich dann doch in eine Art queeren Universalismus, in der es nur noch fragmentierte und rekombinierte Identitäten gibt, was den intellektuellen Preis verdammt in die Höhe treibt, den man für Balzers neue »Ethik der Appropriation« zahlen muss. Es ist keine neue Einsicht, dass Traditionen erfunden und kollektive Selbstbilder konstruiert werden. Aber das fortwährende Dekonstruieren führt am Ende zu einem Scherbenhaufen, in dem sich niemand mehr zurechtfinden kann.
Bei aller Kritik an der heutigen Dreadlocks-Manie und dem Vorwurf kultureller Aneignung wird das dringende Bedürfnis sichtbar, wieder wissen zu wollen, wohin man gehört. Und es artikuliert sich mittlerweile auch ein tiefes Unbehagen an der fortwährenden Behauptung einer voraussetzungslosen und nur noch selbst zusammengewürfelten kulturellen Existenz. Wie überhaupt auffällt, dass in den kulturalistischen Debatten von heute die Frage nach ökonomischen Strategien und Verwertungsinteressen keinen Platz mehr zu haben scheint. Das ist eben das alte Elend linker Theorie, dass sie sich von jeher den marktkapitalistischen Planierungsprozessen als ideologisches Beräumungskommando bereitwillig zur Verfügung gestellt hat.
Die kulturellen Aneignungsvorwürfe und infolge davon auch Restitutionsforderungen würden ja gar keinen Sinn haben, wenn dahinter nicht die Vorstellung von Zugehörigkeit und legitimem Besitz stünde. Man kann das sehr genau im Falle der Benin-Skulpturen sehen, die in einem beispiellosen Akt intellektueller Unterwürfigkeit inzwischen auf Reisen geschickt werden. Wohin, das ist ungewiss. Denn der Kreis der legitimen Empfänger ist längst nicht geklärt. Jetzt hat sich aus New York eine Restitution Study Group zu Wort gemeldet, die dagegen protestiert, dass ausgerechnet die Nachfahren jener afrikanischen Sklavenjägergesellschaften in den Besitz der Bronzen kommen sollen, die das dafür benötigte Metall über den Menschenhandel bekommen haben, Sklavengeld oder Manillen, wie die Tauschwährung hieß.
Es ist eine erstaunliche Art von Transsubstantiationstheorie, die diesen Besitzanspruch begründet. Denn die Nachfahren jener Sklaven, deren Blut bis heute an den Benin-Bronzen klebt, lassen sich über DNA-Analysen tatsächlich finden. Sie wären, wenn man Susan Scafidi, der Kronjuristin in diesem Aneignungsprozess, folgen möchte, die legitimen Erben, und nicht jene, die damit nur ihren Geschmack bedienen, ihren Profit daraus schlagen oder ihre eigenen Identitätsbedürfnisse befriedigen wollen.
Man muss den Vorwurf der kulturellen Aneignung also gar nicht auf so komplizierte Weise wie Balzer umkehren, um ihm eine gewisse Berechtigung attestieren zu können. Zum Lobgesang auf die hybride Gesellschaft und ihre grenzenlose Viskosität gehört eben auch die Trauer um den Verlust von Herkunft und Zugehörigkeit mit dazu. Solche Gedanken wird man bei Balzer nicht finden. Aber sein vorzügliches Buch gibt den Anstoß dazu.