Die Deutsche Musik- und Orchestervereinigung unisono hat am 24. Mai die bundesweite Kampagne #WirSindKulturauftrag für die Rundfunkklangkörper in Deutschland gestartet, die eindrücklich darlegt, warum der öffentlich-rechtliche Rundfunk seine Klangkörper braucht. Theresa Brüheim spricht mit Gerald Mertens über Anlass, Verlauf und Aussichten.

Theresa Brüheim: Herr Mertens, was war der Anlass für die Kampagne und das zugehörige Positionspapier #WirsindKulturauftrag?

Gerald Mertens: Wir setzen uns als Verband seit mehreren Monaten mit dem Thema Rundfunkfinanzierung auseinander. Anlass war der Vorstoß des Intendanten des Westdeutschen Rundfunks, Tom Buhrow, im letzten Oktober. Dabei gab es eine zeitliche Koinzidenz mit dem 75. Jubiläum des WDR-Sinfonieorchesters, das mit einem Festakt in der Kölner Philharmonie gefeiert wurde. Dort hat unter anderem Buhrow gesprochen. Es wurde ausdrücklich die Situation hervorgetan, in der dieses Orchester gegründet wurde: nämlich in einer zerbombten Stadt. Der WDR war mit seinen Klangkörpern die Keimzelle des Wiederaufbaus der Kölner Innenstadt nach dem Krieg.

Und nur wenige Tage später folgten der besagte Vorstoß von Tom Buhrow im Hamburger Übersee-Club und der Artikel in der FAZ, in dem explizit die Klangkörper zur Disposition gestellt wurden. Es wurde faktisch alles infrage gestellt, was Buhrow beim Jubiläum gesagt und im Vorwort des zugehörigen Programmheftes geschrieben hat. Das wurde vor allem in den WDR-Klangkörpern, aber auch in der breiten Öffentlichkeit, sehr widersprüchlich aufgenommen. Es hieß dann: Im Übersee-Club hat Buhrow als Privatmann gesprochen. Aber wie viel Privatmann kann man bei solchen Äußerungen noch sein, wenn man Intendant einer Rundfunkanstalt ist?

Die folgende Diskussion hat bei uns die Alarmglocken zum Läuten gebracht. Daraufhin haben wir uns mit den Klangkörper-Delegierten und -Vorständen aus ganz Deutschland zusammengesetzt und gefragt: Wie ist die momentane Situation in den Anstalten? Wie ist die Lage in den Gremien in Bezug auf die Klangkörper? Wie ist allgemein die Personalsituation? Sie haben ein differenziertes Bild gezeichnet. Insbesondere die Delegierten und Vorstände der WDR-Klangkörper haben die aktuelle Situation sehr stark hinterfragt: Wie kann es sein, dass ihr Intendant einerseits das Jubiläum feiert und im gleichen Atemzug bundesweit die Klangkörper insgesamt infrage stellt? Ist das nicht ein massiver Vertrauensbruch? Buhrow hat das Gespräch dann offen geführt – das muss man ihm lassen. Er hat sich den Herausforderungen und Fragen gestellt.

Als Verband müssen wir die Situation in Gänze betrachten: Wir haben 30 Jahre Strukturveränderungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk hinter uns. Zuletzt die versuchte Privatisierung beim NDR-Chor und -Vokalensemble im Jahr 2020. Das haben wir noch halbwegs verhindern können, wenn auch mit Schmerzen. Dort werden nur noch Teilzeitstellen im Umfang von 60 Prozent besetzt. 2016 gab es die große Fusion zwischen den SWR-Orchestern Baden-Baden/Freiburg und Stuttgart, die massiv in die Klangkörper eingeschnitten hat. Und das, obwohl Freiburg das Exzellenzensemble für zeitgenössische Musik war. Es ist schon schwierig, wenn man von einem ARD-Vorsitzenden und SWR-Intendanten hört, man habe aus zwei mittelmäßigen Klangkörpern nun einen Exzellenzklangkörper gemacht. Als wäre das vorherige Stuttgarter SWR-Sinfonieorchester z. B. unter Sir Roger Norrington irgendetwas gewesen … Die Rhetorik, die da ausgepackt wird, ist mehr als problematisch. Diesem Gesamtszenario wollten wir mit Fakten begegnen. Das war der Ausgangspunkt des Positionspapiers.

In den letzten 30 Jahren sind 26 Prozent der Planstellen verloren gegangen.

Nur in den Rundfunk-Sinfonieorchestern! Wir haben weder die Stellen der Chöre noch die der Bigbands nachgezählt.

Wieso kommt es immer wieder zu diesen Einschnitten bei den Klangkörpern?

Das sind keine Einsparungen. Es wird nicht gespart, sondern es wird etwas gekürzt, etwas gestrichen. Es wird sich gezielt an die Kultur herangemacht und dort gestrichen. Damit will man zeigen, dass man bereit ist, bis ans Tafelsilber, bis zur letzten Konsequenz zu gehen: »Seht her, ich schneide sogar bei der Kultur ein. Schaut mal, wie stark ich hier ›spare‹«. Hier geht es allein um das Signal. Unsere Befürchtung, die wir im Positionspapier so prononciert geäußert haben, ist, dass die Kultur und somit die Künstlerinnen und Künstler zum Bauernopfer gemacht werden. Und das nur, um Dinge, die man wirklich auf den Prüfstand stellen müsste, nicht angehen zu müssen.

Es muss gefragt werden: Was ist originär öffentlich-rechtlich und muss es bleiben? Wo ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk weit von seinem Kernauftrag entfernt? Was können werbefinanzierte Private gleich gut oder besser? Und was genau ist vom Kernauftrag umfasst?

Wenn Kultur, Bildung, Information/Unterhaltung die Säulen des Rundfunkauftrags sind, dann ist in Kultur und Bildung originär der Klangkörperauftrag enthalten – teilweise auch im Bereich Unterhaltung. Im Grunde genommen sind die Klangkörper im Zentrum dieses öffentlich-rechtlichen Rundfunkauftrages. Aber es gibt Stimmen, die die Klangkörper eindeutig an den Rand drängen wollen.

Wir haben eine sehr dichte Orchesterstruktur in Deutschland. Dennoch sind die Rundfunkklangkörper neben den kommunalen Orchestern nicht einfach überflüssig. Im Gegenteil: Der WDR geht mit seinen Klangkörpern raus in Orte, in denen es keine kommunalen Klangkörper gibt. Er geht in Schulen, bei denen es in 30 Kilometern Entfernung keine Orchester gibt. Musikvermittlung vor Ort in kleinen Formationen auf Top-Niveau in der Provinz. Das ist Rundfunk zum Anfassen. Bei den Konzerten mit der MAUS, an denen alle Klangkörper beteiligt sind, erreicht der WDR niederschwellig in ganz NRW ein sehr breites und diverses Publikum.

Im Positionspapier zeigen wir auf, welche Vielfalt die Rundfunkklangkörper als Chöre, Bigband sowie Orchester bieten, um damit ihren Kernauftrag, ihren Bildungsauftrag, Menschen jeden Alters an Musik heranzuführen, zu erfüllen.

Wenn der Rundfunkbeitrag bezahlt ist, kriegt man für weniger als einen Euro im Monat, genau genommen 42 Cent – das ist preiswerter als jedes Streaming-Abo –, ein Top-Kulturangebot. In den Mediatheken des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wird gegenwärtig aufgerüstet. Das ist ein guter Weg der ARD, über diese Klassik-Bündelung das Angebot noch sichtbarer zu machen. Dazu leisten die Klangkörper einen unverzichtbaren Beitrag.

Lassen Sie uns zu den zentralen Forderungen des Positionspapiers kommen. Warum braucht der öffentlich-rechtliche Rundfunk die Klangkörper?

Der öffentliche Rundfunk braucht seine Klangkörper, weil sie Teil seines Kernauftrages im Kultur- und Bildungsbereich sind und weil sie Stücke produzieren, aufführen und erlebbar machen, die andere Orchester gar nicht verwirklichen können. Das betrifft vor allem zeitgenössische Musik. Ohne den öffentlich-rechtlichen Rundfunk würde es einen riesigen zeitgenössischen Musikkanon nicht geben!

Auch den Bereich der Musikvermittlung hat der öffentlich-rechtliche Rundfunk in den vergangenen Jahren ausgebaut. Im WDR gibt es eine eigene Abteilung, die sich darum kümmert. Es gibt den sogenannten Plan M – M wie Musikvermittlung. Darin ist festgeschrieben, dass alle Klangkörper bis zu 30 Tage im Jahr, wie andere redaktionelle Mitarbeiter auch, in weiteren Bereichen wie der Musikvermittlung eingesetzt werden können. Das wurde durch uns tariflich abgesichert. Das ist ein entscheidender Punkt, damit der öffentlich-rechtliche Rundfunk diese Breite und Niederschwelligkeit einer »Musik für alle« auch über das Programm herstellen kann. Über die klassischen Radio-Ausspielwege, aber auch die eigenen Kanäle wie z. B. BR Klassik kann ein sehr breites Publikum erreicht werden, das sonst nicht den Weg in den Konzertsaal findet. Auch weil das Ticket, selbst wenn es sozial rabattiert ist, einfach mehr Geld kostet als der Rundfunkbeitrag für die Klangkörper. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk bietet ein breites Kultur-, Bildungs- und Musikprogramm eigener Klangkörper, mit zeitgenössischer Musik, aber auch neue und wiederentdeckte Komponistinnen sowie verfemte Komponisten bis hin zur Entdeckung der Musikliteratur, die im begrenzten klassischen Konzertkanon vor Ort überhaupt nicht gespielt wird.
Schauen wir uns den Konzertbereich an: Ein normales kommunales Orchester spielt ca. zehn Sinfoniekonzerte mit 30 Werken im Jahr. Wenn man überlegt, was Rundfunk-Klangkörper produzieren, aber auch live aufführen – und immer unterm Mikrofon auf Topstandard –, ist es eine enorme Leistung, ein Reichtum, eine Vielfalt. Das ist die Potenz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.

Und: Während der Pandemie waren die Rundfunk-Klangkörper nahezu die einzigen, die produziert haben – mit Ausnahme der Berliner Philharmoniker in der Digital Concert Hall. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat keine Kurzarbeit gehabt. Das heißt, die Klangkörper haben weitergearbeitet, natürlich mit Abständen, und haben produziert. Die Kulturproduktion ist weitergelaufen – bis hin zur zusätzlichen Beschäftigung von Selbstständigen im Aufnahmestudio.

Diese Potenziale zu gefährden, halte ich für grob fahrlässig. Am Ende des Tages ist Rundfunk ein wesentlicher Teil von Demokratie und Teilhabegerechtigkeit. Er bietet wesentliche Möglichkeiten, niederschwellig alle Menschen, die im Sendegebiet leben, zu erreichen. Ob die das dann in Anspruch nehmen, ist eine andere Frage. Aber grundsätzlich sehe ich einen sehr breiten Anspruch.

Sie haben die Kampagne und das Positionspapier am 24. Mai vorgestellt. Wir sprechen knapp einen Monat später miteinander. Wo steht die Kampagne heute? Wie war die bisherige Resonanz?

Die Resonanz ist gut. Auch weil wir kritische Reaktionen bekommen, wie z. B. von der Vorsitzenden des WDR-Verwaltungsrates. Aber wir bekommen ebenso Zuspruch. Oft hören wir, dass die Kampagne genau zur richtigen Zeit kommt. Es wird gelobt, dass das so ausdrücklich gesagt wird.

Wir haben unter anderem Banner produziert, sodass sich jeder einzelne Klangkörper auch bildlich hinter diese Kampagne stellen kann. Das werden wir die nächsten Monate weiter in den sozialen Medien verbreiten.

Dann gilt es abzuwarten, wie in den kommenden Monaten die Diskussion in der ARD läuft. Bislang ist unser Kenntnisstand so, dass es keinen übergreifenden Prüfauftrag für das Thema Klangkörper gibt. Deswegen gucken wir sehr genau auf die einzelnen Anstalten, ob dort Bedrohungsszenarien entstehen. Der rbb ist eine der kritischsten Anstalten im Moment, auch was die Neuaufstellung innerhalb der Rundfunkorchester und Chöre GmbH anbelangt, obwohl der rbb faktisch nur 5 Prozent hält. Die Anzeichen für die Gefährdung von Klangkörpern können ganz unterschiedlich sein, z. B. könnte versucht werden, frei werdende Stellen nicht mehr nachzubesetzen.

Bei der Vorstellung von #Wirsind Kulturauftrag bzw. in der damit verbundenen Pressemeldung sagen Sie, dass viel Desinformation und Halbwissen in der Debatte kursiert. Wieso ist das so?

Das hängt mit dem Bild zusammen: »Die Klangkörper – was ist das, brauchen wir das überhaupt? Kann das nicht weg?« Insofern herrscht insbesondere Halbwissen bei denjenigen vor, die keine Klassikwelle anschalten und sagen: »Kenne ich nicht, brauche ich nicht, kann doch weg.« Selbst wenn du es nicht kennst, vielleicht könnte es für deine Kinder oder für dein Umfeld wichtig sein … Eine neue Bertelsmann-Studie zeigt, dass 91 Prozent der Bevölkerung ein öffentlich finanziertes Kulturangebot, das schließt das Rundfunkangebot ein, gut finden. Aber viel weniger nutzen es. Die Möglichkeit, es zu nutzen, ist das Entscheidende. Ob ich es dann tue, ist eine Frage von Zugänglichkeit. Dafür sind die Klangkörper wieder entscheidend, wenn sie aus der Anstalt rausgehen. Sie sind nicht nur im Konzertsaal erlebbar, sie gehen mit kleinen Gruppen in eine Schule oder treten auf Musikfestivals auf. D. h. Klangkörper sind Mitarbeitende des öffentlichen Rundfunks zum Anfassen. Eine bessere Außendarstellung für den Rundfunk als durch eigene Klangkörper kann es nicht geben. Das wird viel zu wenig genutzt.
Die PR und Kommunikation der Anstalten selbst sind problematisch. Die Inhalte, auch der Musikvermittlung, werden suboptimal vermarktet. Es gibt schlicht und ergreifend ein Vermittlungs-, PR- und Marketingproblem. Versuchen Sie mal die Pressestelle beim WDR zu Fragen der Klangkörper anzurufen!

Wie geht es in Ihrer Arbeit weiter mit dem Thema?

Wir werden diese Kampagne fortsetzen. Wir warten ab, wie sich die Reaktionen aus Medien-Staatskanzleien darstellen. Und wir werden zu gegebener Zeit, wahrscheinlich im Herbst, reagieren. Die ARD will eigene Pläne vorstellen – wir werden auf mögliche Bedrohungsszenarien reagieren. Wir werden nicht kampf- und tatenlos zusehen, wie Klangkörper infrage gestellt werden.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 7-8/2023.