Vor Kurzem hat mich die Neugier gepackt: Ich wollte einmal eine richtig »woke« Person kennenlernen. Zwar habe ich Kontakt zu einigen Menschen, die sich aktivistisch für dieses oder jenes Thema einsetzen, aber dem Klischee des »woken« entsprechen sie nicht. Vielleicht, so dachte ich, gibt es das gar nicht, ist es nur ein aufgeblasenes Feindbild, das rechte Ideenpolitiker für ihren Radau erfunden haben. Doch ein kundiger Kollege empfahl mir, mich in den sozialen Netzwerken, vor allem bei Twitter umzusehen. Ich antwortete ihm, dass ich aus der Distanz den Eindruck gewonnen hätte, Twitter sei ein Medium für Straßenköter. Dafür wäre mir meine verbleibende Lebenszeit zu kostbar. »Dann versuch es doch mit dem ›Missy Magazin‹«, setzte er nach. Ich also zur Bahnhofsbuchhandlung, herumgesucht, schließlich fündig geworden, gekauft, zurück nach Hause und in Ruhe gelesen. Tatsächlich, es gibt sie: »woke« Menschen, die »woke« Texte schreiben. Bei der Lektüre habe ich viel gelernt, vor allem neue Wörter.
Über ein Adjektiv musste ich länger nachdenken: »wc-deutsch«. Damit sollen auf »woke«-Neudeutsch Menschen wie ich bezeichnet werden. Also Menschen, bei denen nicht auf einen »Migrationshintergrund« hinzuweisen wäre, weil sie als weiß und christlich anzusehen seien. Natürlich habe ich gestutzt und fühlte mich unangenehm berührt, unsachgemäß etikettiert und irgendwie ausgegrenzt. Im nächsten Moment dachte ich: »Warum soll es mir besser gehen? So ähnlich empfinden wahrscheinlich diejenigen, bei denen immer ihr Migrationsvorder- oder -hintergrund mitgenannt wird, obwohl sie sich selbst ganz unabhängig davon verstehen.« Sie werden auf ihre Herkunft und ihre Hautfarbe reduziert. Dass ich meine Herkunft – aus Hamburg und Hannover – für nicht erwähnenswert halte, könnte da ein Indiz für meine Privilegiertheit sein. Ich konnte mir bisher den Luxus leisten, mich für normal zu halten. Auch meine Hautfarbe – weiß bzw. bleich bzw. im Winter käsig – wurde mir bisher nicht von anderen als existenzielles Thema aufgenötigt. Vielleicht also, dachte ich, geschieht es mir ganz recht, mich im »Missy Magazin« als »wc-deutsch« gekennzeichnet zu sehen. So bescherte mir die Lektüre eine unfreiwillige, aber nicht unnütze Empathie-Übung.
Trotzdem ärgere ich mich immer noch über diese Etikettierung. Das soll ich ja wohl auch. Doch was mich verletzt, ist nicht die Abort-Nähe, in die ich per »wc«-Abkürzung gestellt werde. Auch störe ich mich nicht an der Benennung meiner Hautfarbe. Ist halt so. Und natürlich habe ich nichts dagegen, als Christ bezeichnet zu werden. Bin ich eben. Was ich falsch und richtiggehend problematisch finde, ist, wie hier ein Begriff des Christlichen gebildet wird, der ausschließlich einer Strategie des »othering« dient und damit ein Instrument aggressiver Kommunikation ist. Das muss ich erklären.
Den Oberbegriff für eine so alte, so dynamische und in sich so diverse Religion wie das Christentum zu bilden, ist eigentlich ein komplexer gedanklicher Vorgang. Aber die Bildung eines Begriffs von »dem« Christentum ist eben auch ein Machtinstrument. Deshalb behaupten viele flink und klotzig, dieses oder jenes sei die »Identität« des Christentums. Damit reduzieren sie es zu einem Identitätsmarker. So beziehen sich manche rechte Ideologen sehr positiv auf »das« Christentum, um die eigene Position zu stärken und sich von anderen abzugrenzen. Ihrem Pathos entspricht allerdings eine eigentümliche Leere im Inhaltlichen. Ganz ähnlich geht es in »woken« Texte zu, nur mit umgekehrter Bewertung: Das Christentum ist hier ein negativer Identitätsmarker, der das bezeichnen soll, was nicht mehr dazugehören soll. Dem dient auch der Kurzschluss zwischen »weiß« und »christlich«, den man ebenfalls, wenn auch anders bewertet, von Rechten kennt. Dass das Christentum jedoch eine weltweite Größe ist, deren Schwerpunkt längst im globalen Süden liegt – und ja, die allermeisten Christinnen und Christen sind keineswegs »weiß« –, wird allerdings von beiden Seiten ausgeblendet. Ich hätte nicht geahnt, welche gedanklichen Parallelen es zwischen »woke« und »rechts« geben kann, hätte ich nicht das »Missy Magazin« gelesen.