Zu Beginn des neuen Jahres denke ich, wie so viele, mit Sorge an die bevorstehenden Wahlen in den östlichen Bundesländern und an den unaufhaltbar scheinenden Aufstieg der Rechtsextremen. Zugleich muss ich mir – als durch und durch Westdeutscher – eingestehen, dass ich zu wenig weiß von ostdeutschen Erfahrungen und Einstellungen, als dass ich mir ein sicheres Urteil und sinnvolle Ratschläge zutrauen würde. Deshalb habe ich mir wieder ein Interview aus dem vergangenen Sommer hervorgeholt. Tobias Bilz, der sächsische Landesbischof, hatte es dem sehr lesenswerten Internetmagazin »Die Eule« gegeben (dort ist es über die Suchfunktion leicht zu finden, wenn man es in Gänze lesen möchte). Ich finde immer noch sehr hilfreich, was Bilz auf die Fragen von Philipp Greifenstein zu sagen hatte – als einer, der nicht aus der Ferne Diagnosen stellt, sondern dessen Heimat Sachsen ist und der eine besondere, nämlich pastorale Verantwortung trägt.

Nüchtern und klar analysiert er die historischen Ursachen für die neue Popularität der Rechtsextremen. Ein zentraler Faktor ist für ihn die lange Diktaturerfahrung: »Ich denke …, dass es unter uns Ostdeutschen viele Menschen gibt, die kein Grundvertrauen in unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung haben. Mir kommt es tatsächlich so vor, dass die Nachwirkungen der beiden Diktaturen, die wir hier im Osten hatten, ein spezielles Verhältnis zum Staat hervorgebracht haben, das weitervererbt wird. Wir identifizieren uns nicht mit dem Staatswesen, sondern wir bewerten es. Wir betrachten es wie von außen. Wenn wir das Gefühl haben, dass etwas schiefläuft, dann treten wir nicht etwa in einen Diskurs ein, sondern dann wollen wir etwas ganz anderes haben. Bis zu 80 Prozent der Sachsen sagen, dass sie mit Politik gar nichts zu tun haben wollen. Politik, die machen ›die da oben‹. ›Die‹ habe ich vielleicht gewählt oder nicht, aber ich schaue mir das nur an. Eine freiheitlich-demokratische Ordnung funktioniert so nicht.« (Ähnliches könnte man auch einigen Menschen in Westdeutschland sagen.)

Beim Wiederlesen fällt mir zweierlei auf: zum einen, wie anders ich aufgewachsen bin und wie sprachlos mich diese Analyse macht; zum anderen, dass Bilz auch dort von »wir« spricht, wo er Einstellungen beschreibt, die er für sehr problematisch hält. Vielleicht liegt in Letzterem ein Schlüssel, um nicht nur meine Ratlosigkeit für etwas anderes zu öffnen. Als Seelsorger weiß Bilz allerdings, dass man nicht zu schnell mit Lösungen und Maßnahmen kommen sollte: »Die Ablehnung der Demokratie ist da. Das müssen wir als Phänomen erst mal zur Kenntnis zu nehmen. Das ist, glaube ich, auch einer der größten Schmerzen, den wir gerade aushalten müssen: Dass wir das eben nicht wie einen Fleck behandeln können, den man nur gescheit wegwischen muss.«

Deshalb hält Bilz wenig von gut gemeinten – aus dem Westen – kommenden Erziehungsmaßnahmen: »Ich habe in der DDR wie viele andere Ostdeutsche auch gelernt, was Agitation bedeutet: Wie es sich anfühlt, wenn irgendwer versucht, an meiner Meinung zu arbeiten, mit Plakaten oder im Staatsbürgerkundeunterricht. Nicht wenige Menschen haben sich dem entzogen, oft durch den Rückzug in eine innere Welt. Ich habe Sorge, dass die Art und Weise, wie wir rechtes Gedankengut bekämpfen wollen, bei manchen Menschen den gleichen Reflex auslöst. Es gibt viele, die sich Gesprächen entziehen, weil sie wissen, da wird jemand versuchen, sie zu überzeugen. So funktioniert es offenbar nicht.«

Aber was soll man dann tun? Bilz ist Folgendes wichtig: »Faktenklarheit herstellen«, »nicht voreilig auf persönliche Distanz gehen«, Prinzipien benennen, »von denen wir sagen: Die sind vom Evangelium aus gesetzt«, beispielsweise: »Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt eins in Christus Jesus« (Galaterbrief 3,28). Diese Gedanken nehme ich mit auf meine anstehenden Reisen nach Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Übrigens kann ich dies als einen der wenigen sinnvollen Vorsätze für das neue Jahr nur empfehlen: Häufiger nach Ostdeutschland fahren!

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2024.