Die Republik hat zurzeit viel mit sich zu bereden: über Demokratie und Transformation, den Klimawandel, die neue Einwanderungsgesellschaft oder die korrekte Erinnerungskultur. Dieser Tage hat die Expertenkommission zur baulichen Entwicklung der berühmten Paulskirche in Frankfurt am Main ihre Empfehlungen vorgelegt. Auch dort soll jetzt ein »Haus der Demokratie« entstehen, mit opulenter Ausstattung und einer Mannschaft von 40 Mitarbeitern, die dort in Zukunft alles veranstalten sollen, was so dazugehört: Workshops, Kunstprojekte, Lesungen, Wettbewerbe, Festivals oder Fotowerkstätten. Und wahrscheinlich wird es auch wieder die übliche Statement-Architektur geben mit einem »Signature Building« als »Urban Icon«. Die Stadt Frankfurt wäre auch schlecht beraten, wenn sie nicht zugreifen würde, um eine ihrer Problemzonen zu bereinigen, die jeder in schauderhafter Erinnerung hat, der in den 1970er, 1980er Jahren in Frankfurt lebte.

Dabei ging von dieser Paulskirche und dem nach ihr benannten Paulskirchenparlament vor 175 Jahren der Impuls zu einer freien und einigen deutschen Nation aus, die, so muss man wohl leider konstatieren, bis heute nicht wirklich vollendet ist. Die politischen Fliehkräfte sind in der letzten Zeit wieder größer geworden und die Gegensätze wohl auch. Wir spüren in diesen Jahren, wie die Nation wieder auseinanderrückt und vor allem: dass wir uns in Ost und West offenbar nicht mehr viel zu erzählen haben und dies auch gar nicht mehr wollen.

Das war offensichtlich einer der Gründe, warum der im hessischen Friedberg geborene Historiker Herfried Münkler in der Paulskirchen-Kommission so sehr auf einer erneuerten Erzählung für die Paulskirche pochte, jener Erzählung, die doch ihre eigentliche war: der Ort zu sein, wo sich unsere Nation in Freiheit erfand. Münkler wäre damit womöglich auf offenere Ohren gestoßen, wenn er nicht zugleich ins Unterholz einer Rekonstruktionsdebatte geraten wäre, die der Architekturkritiker Benedikt Erenz schon vor Jahren in der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit angestoßen hatte – in Frankfurt erfahrungsgemäß ein hochvermintes Gelände. Dort hatte man unmittelbar nach dem Krieg schon mit Leidenschaft über den Wiederaufbau des Goethe-Hauses gestritten; später dann über die Ruine der Alten Oper, die der damalige Oberbürgermeister Rudi Arndt, den sie deswegen den »Bombenrudi« nannten, am liebsten hätte wegsprengen wollen. Und überhaupt die Römerbergzeile. Sie gilt den Puristen bis heute als der Sündenfall schlechthin einer reaktionären Architekturgesinnung. Und die wiedererstandene Innenstadt erschien einigen gar wie eine Erfindung der AfD. Kein Wunder, dass das Ansinnen, der Paulskirche ihr altes Dach und den ursprünglichen Innenraum wiedergeben zu wollen, auf heftige Ablehnung stieß. Die Expertenkommission hat sich entsprechend entschieden und der Rekonstruktion der im Bombenkrieg zerstörten Vorkriegsfasson eine Absage erteilt. Auch Münklers Idee, die Paulskirche zu einem »sprechenden« Denkmal zu machen und sie aus dem toten Winkel der heutigen deutschen Gedenkkultur herauszuholen, hat die Kommission nicht überzeugt. Sie hat einem neu zu errichtenden »Haus der Demokratie« den Vorzug gegeben, wo sich die Vermittlung des nötigen historischen Wissens wohl zeitgemäßer veranstalten ließe.

Das ist eben genau der entgegengesetzte Weg, als jener, der in Dresden mit dem originalgetreuen Wiederaufbau der Frauenkirche beschritten wurde. Auch dort wollte man einen Ort der »Begegnungen, Entdeckungen und Impulse« schaffen, aber die Wirkung im Stadtraum entstand durch den wiedererstandenen Kuppelbau des berühmten Barockbaumeisters George Bähr. Wer die Weihe der Frauenkirche damals erlebt hat, weiß um die Bedeutung dieses Wahrzeichens für eine tief verwundete Stadt; und trotzdem sind die Stimmen bis heute nicht verstummt, die der in den Himmel ragenden rußgeschwärzten Ruine den Vorzug gegeben hätten.

Auch in Frankfurt stößt man unweigerlich auf genau jene existenzielle Erfahrung, für die der Untergang Dresdens steht. Die alte vertraute Lebensform ist unwiderruflich verloren gegangen, und es lässt sich nicht heilen, was nicht mehr zu heilen ist. In dieser düsteren Erkenntnis ist die alte Paulskirche nach dem Krieg wiedererstanden. Auch Münkler spricht von einem »tiefen Bruch mit der deutschen Geschichte«, der hier markiert worden sei, und man möchte hinzufügen: der sich einer historischen Erzählung auch stoisch entzieht. Das ist für einen erzählenden Historiker natürlich ein unbefriedigender Zustand, aber von einem »erinnerungspolitischen Desaster« sollte man dennoch nicht reden. Im Gegenteil: In dieser heute so belanglos, so randständig wirkenden Paulskirche, die allenfalls in Buchmessezeiten zu einem kurzen Leben erwacht, kommt jene Grundüberzeugung der alten Westrepublik wieder zum Vorschein, ohne Pathos, ohne Ballast und ohne historisches Gepränge, nach der Katastrophe weiterleben zu wollen. Der Wiedererbauer der Paulskirche, der Architekt Rudolf Schwarz, schwärmte sogar von dieser Ruine. Sie sei weitaus herrlicher als das frühere Bauwerk. Und er verkündete stolz: »Wir erreichten, dass es so blieb.«

Man darf den Streit um die Neugestaltung der Paulskirche aber nicht als eine bauästhetische oder gedenkpolitische Auseinandersetzung abtun. Was sich dort plötzlich zu Wort meldet, ist ein Restempfinden für das Selbstverständnis und die Authentizität der alten Westrepublik, die – auch wenn man es vielleicht nicht wahrhaben will – ebenso untergegangen ist wie die Lebensverhältnisse im Osten. Beim Gang durchs Berliner Regierungsviertel beschleicht manchen Westbesucher die Frage, ob hinter den neuen sandgestrahlten Geschichtsfassaden nicht auch das eigene frühere Leben verschwand.

Vielleicht ist es nur die berühmte Ironie des Schicksals, dass nahezu zeitgleich zu den Frankfurter Plänen in Halle an der Saale die Entscheidung für das Zukunftszentrum des Ostens fiel, wo die Transformation der Gesellschaft nach dem Mauerfall diskutiert werden soll, man aber vielmehr versuchen wird, die kollektiven Wunden der Menschen im Osten zu heilen.

Beide Projekte, die so auffällig getrennt voneinander entstanden sind, verraten mehr über das Land, als man meint. Denn es ist offenkundig schon gar nicht mehr möglich, sich auf einen gemeinsamen Ort zu verständigen, an dem man historisches Erbe und gemeinsame Zukunft zusammen bedenkt.

Die Paulskirche war einmal das Versprechen der Einheit und nach der deutschen Katastrophe der schlichte Ort für den Neubeginn. Jetzt wird sie womöglich zu einem Frankfurter Ereignis – und der Rest unseres Landes liegt fern.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2023.