Als die Stiftung Kunstfonds im Frühjahr 2010 ihr Archiv für Künstlernachlässe startete, war der Weg, den dieses Modellprojekt beschritt, neu und ohne Vorbild. Flexibilität war gefragt, um die Idee eines hybriden Ortes »zwischen Atelier und Museum« zu visualisieren und in die Praxis zu überführen. Wichtige künstlerische Lebenswerke bildender Künstlerinnen und Künstler sollten erhalten und bewahrt werden. Denn Kunstwerke sind Zeugen ihrer Zeit, sie spiegeln als Zeitgenossen unsere Gesellschaft und werden im Laufe der Jahre zu historischen Quellen. Sie bilden das visuelle Gedächtnis unserer Zukunft.
Insbesondere seit den 1980er Jahren sind bundesweit – nicht zuletzt dank der ambitionierten Kulturpolitik des Bundes, der Länder und der Kommunen – viele hochqualitative künstlerische Œuvres entstanden. Millionen von Zeichnungen, Skizzen, Gemälden, Skulpturen, Videos, Filmen, Entwürfen und Konzepten – ein sagenhafter Kunstschatz, der mangels passender Infrastrukturen verloren zu gehen droht. Gefragt war also ein Ort, der wichtige künstlerische Lebenswerke physisch sichert und – vor allem – öffentlich hält. Unabhängig von kommerziellen Zwängen sollen die Kunstwerke über den Tod der Künstlerinnen und Künstler hinaus im Ökosystem der bildenden Kunst und in der Gesellschaft präsent bleiben.
Das Künstler:innenarchiv der Stiftung Kunstfonds sichert deshalb in einem ersten Schritt den physischen Erhalt. Die Kunstwerke werden konservatorisch begleitet und fachgerecht gelagert. Sie werden inventarisiert und digitalisiert, damit sie stets den Zugriff ermöglichen und als Leihgaben sowie zu Forschungszwecken jederzeit zur Verfügung stehen. Zugleich mit den Originalen bewahrt das Archiv nicht nur das Wissen um die ursprüngliche künstlerische Intention der Kunstwerke, sondern speichert auch technische und inhaltliche Angaben wie beispielsweise Konzeptskizzen, Aufbaunotizen, Materialanalysen, Forschungsergebnisse und Werkstudien. Hinzu kommt ein umfangreicher inventarisierter Bestand an Ephemera: Zeitungsartikel, Notiz- und Skizzenbücher, Korrespondenzen, Bio- und Bibliografien, Fotografien, Ausstellungshistorien und vieles mehr, die potenziellen Leihnehmenden eine umfassende Recherche eröffnen. Ebenso wie die Kunstwerke stehen auch die Ephemera des Künstler:innenarchivs als Leihgaben zur Verfügung. Für Ausstellungshäuser, Universitäten und Hochschulen im In- und Ausland ist das Archiv ein kompetenter und gefragter Partner, ein willkommener Wissensspeicher, der mit jeder Kooperation anwächst.
Ein zweiter Schwerpunkt des Künst-ler:innenarchiv ist die Beratung von Künstlerinnen und Künstlern bzw. Nachlässen zu allen Fragen rund um das Thema »künstlerischer Vor- und Nachlass«. Die Spanne reicht von Tipps zu einer strukturierten Inventarisierung über konservatorische Empfehlungen bis hin zu rechtlichen Hinweisen, um ein künstlerisches Lebenswerk gut vorbereitet aus dem Atelier zu entlassen. Das Archiv ist in diesem Zusammenhang gleichzeitig auch ein Anschauungsmodell zum Handling künstlerischer Lebenswerke, ein gern besuchter Ort der Praxis.
Eine Bewerbung um Aufnahme eines künstlerischen Vor- und Nachlasses ist jederzeit und formlos möglich. Über die Aufnahme eines Œuvres entscheidet ein in der Mehrheit mit Künstlerinnen und Künstlern besetztes zehnköpfiges Auswahlgremium, dessen Mitglieder für jeweils drei Jahre vom Stiftungsrat gewählt werden. Die Jurymitglieder setzen sich gründlich mit den jeweils als Zustiftung bzw. Schenkung angebotenen Lebenswerken auseinander, denn nur wenige können aufgrund der geringen Platzkapazitäten aufgenommen werden. Hauptkriterien für eine Aufnahmeempfehlung sind die künstlerische Qualität und historische Relevanz eines Werks. Nicht unerwähnt bleiben darf an dieser Stelle, dass keineswegs jede Arbeit einer Künstlerin bzw. eines Künstlers, deren Werk von der Jury zur Aufnahme empfohlen wird, den Weg ins Archiv antreten wird. Die aufzunehmenden Konvolute sollen alle Phasen eines künstlerischen Lebenswerkes mit jeweils mehreren wesentlichen Arbeiten abbilden. Wichtig ist auch, dass alle Werke in konservatorischer Hinsicht lagerfähig sind und ausgeliehen werden können.
Es wäre vermessen zu glauben, dass angesichts der vielen hochqualifizierten künstlerischen Œuvres alle Werke den Weg in Archive oder Museen finden werden. Deshalb hat die Stiftung Kunstfonds ihr Förderprogramm KUNSTFONDS_Werkverzeichnung modifiziert und neu aufgelegt. Bildende Künstlerinnen und Künstler bzw. deren Rechtsnachfolgende können sich um Mittel für eine digitale Verzeichnung von künstlerischen Lebenswerken bewerben. Die Förderung ist gebunden an ein spezifisch entwickeltes digitales Erfassungssystem, das die Kunstschaffenden bzw. deren Nachlässe bei der Dokumentation ihres Werks unterstützt. Die geförderten Werkverzeichnisse werden als rein digitaler Bestand in das Künstler:innenarchiv aufgenommen und ergänzen auf diese Weise die dort lagernden Original-Konvolute. Beide Bestände bleiben gleichermaßen öffentlich zugänglich.
Das Künstler:innenarchiv ist eine Zeitkapsel, die heute speichert, was in Zukunft als unser Kunsterbe gelten wird. Eine zwingend notwendige Einrichtung, die unabhängig von merkantilen Interessen historisch relevante künstlerische Lebenswerke sichert und den Kreis traditioneller Gedächtnisinstitutionen komplementiert.
Last but not least ist das Archiv ein Denk-Ort, der zukunftsgewandte Fragen zu Parametern, wie wir unsere Zeitkapseln befüllen, in den öffentlichen Diskurs trägt: Wer bestimmt, was bleibt? Wer entscheidet, was überlebt? Nach welchen Kriterien und Prozedere wird ausgewählt?
Das Künstler:innenarchiv ist Wissensspeicher, Anschauungsmodell, Beratungsinstitut, Zeitkapsel und Diskursplattform. Ein von Künstlerinnen und Künstlern initiiertes Drehkreuz zum Kunsterbe der Zukunft.