Seit 1991 ist Anton Biebl bei der Stadt München tätig, 2019 wurde er dann zum Kulturreferenten gewählt. Seitdem hat er sich unter anderem die Themen Inklusion, Erinnerungsarbeit und kulturelle Integration vorgenommen. Im Gespräch mit Theresa Brüheim berichtet er, was Münchens Kulturszene ausmacht, wie sie nach der Pandemie aufgestellt ist und welche Kulturprojekte er noch umsetzen möchte.

Theresa Brüheim: Herr Biebl, welche kulturpolitischen Themen stehen in München gerade hoch auf der Agenda für 2023?

Anton Biebl: Unsere Partnerstadt ist Kiew. Mit dem Ukraine-Krieg sind wir also in besonderer Weise konfrontiert und haben uns von Anfang an solidarisch positioniert. Unsere Bühnen, das städtische Orchester und die Museen haben Benefizaktionen durchgeführt, es gibt Engagements und Residencies für ukrainische Künstlerinnen und Künstler. Das hilft auch uns, uns nicht machtlos zu fühlen angesichts der Ereignisse.

Daran schließen sich die Themen Energiekrise, Teuerungen und Inflation an: Unser Stadtrat hat Sondermittel zur Verfügung gestellt, sowohl für die städtischen Kulturinstitutionen als auch für unsere Zuschussnehmenden. Auch Corona wirkt noch nach: Wir fragen uns, wie können wir das Publikum zurückgewinnen? Mittlerweile gibt es wieder einige ausverkaufte Veranstaltungen – das freut mich.

Außerdem habe ich mir die Verbesserung der finanziellen Situation der Künstlerinnen und Künstler auf die Agenda geschrieben. Der Stadtrat hat zusätzlich 200.000 Euro Sondermittel für »Fair pay« gewährt, die sukzessive erhöht werden sollen.

Inhaltlich wichtig sind für mich auch die Themen Inklusion und Stadtteilkultur, um in die Breite zu wirken. Und Erinnerungsarbeit angesichts unserer besonderen Stadtgeschichte. Damit meine ich nicht nur die unrühmliche Rolle Münchens in der NS-Zeit, sondern auch die Auseinandersetzung mit rechtsgerichteter Gewalt bis in die Gegenwart.

Wie ist die Münchner Kulturszene nach der Pandemie und in der Energiekrise aufgestellt?

Im Haushalt 2023 haben wir 4,6 Millionen Euro zusätzlich für Teuerungen in unseren kommunalen Kultureinrichtungen. Weitere 1,4 Millionen federn die Mehrkosten unserer Zuschussnehmenden ab. Die Freie Szene in München konnten wir mit frühzeitigen Hilfen und der Anpassung von Zuwendungsregeln über die Pandemie retten. Kurzarbeitsgeld, Landes- und Bundesmittel haben ihr Übriges bewirkt. Wir wollen unsere gewährten Mittel über das Haushaltsjahr 2022 hinaus bewilligt lassen, weil es Übergänge braucht. Während der Pandemie hatten wir Auftrittsmöglichkeiten im Freien geschaffen, z. B. beim eigens initiierten Festival »Sommer in der Stadt«. Infrastruktur und Honorare waren städtisch finanziert, so konnte das Publikum bei freiem Eintritt teilnehmen. Die Vernetzung der Akteure wirkt bis heute positiv nach.

Was unterscheidet die Münchner Kulturlandschaft von anderen in Deutschland? Was macht sie besonders?

Die Vielfalt und die Vernetzung! Sie finden hier städtische, staatliche und weitere Kulturangebote. Die Stadtbevölkerung ist international, stammt aus 190 Nationen. Jeder Zweite hat einen nichtdeutschen kulturellen Background. Unsere Weltklasse-Orchester – die Münchner Philharmoniker, das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, das Bayerische Staatsorchester und das Münchener Kammerorchester – spiegeln das längst in ihrer Besetzung wider. Das Kunstareal mit dem Lenbachhaus, dem NS-Dokumentationszentrum, den Pinakotheken und Galerien ist ein touristischer Hotspot. Auf den Wiesen dort spielen auch die Münchnerinnen und Münchner Fußball oder sonnen sich vor der Glyptothek.

Die lebendige Freie Szene zeigt sich im Kreativquartier, wo wir mit dem »schwere reiter« einen komplett recycelbaren Interimsspielort für Theater, Tanz und Musik eröffnet haben. Bald werden wir dort zwei Industriedenkmäler zu Produktions- und Präsentationsorten umbauen. Das HochX ist ein weiterer städtisch finanzierter Spielort, an dem Neues gezeigt wird. Mit 80 Musiklabels, einer regen Urban-Art-Szene und Kunstprojekten im öffentlichen Raum hat München viel Unerwartetes zu bieten.

Seit 2019 sind Sie bereits Kulturreferent der Landeshauptstadt München. Was konnten Sie seitdem erfolgreich umsetzen?

Den Neubau des Münchner Volkstheaters, den ich von Anfang an mitbegleitet habe. Wir sind wirklich stolz, dass wir den Zeit- und Kostenplan einhalten konnten. Die Investitionssumme lag bei 135 Millionen. Bundesweit konnte keine andere Kommune einen solchen Theaterneubau umsetzen.

Außerdem ist der Interimsort Gasteig HP8 mit der Isarphilharmonie entstanden. Es ist ein Mix aus Konzertsaal, Open Library, Münchner Volkshochschule und vielem mehr. Der »alte« Gasteig mit rund 2 Millionen Besuchern im Jahr ist ja der zentrale Kulturort in der Stadt. Nach 40 Jahren wird es aber Zeit für eine Sanierung und Weiterentwicklung.

Wir haben auch neue Stadtteilkulturzentren eröffnet. Eine Großstadt braucht eine polyzentrale Infrastruktur – auch in der Kultur. So wächst unser Bibliotheksnetz mit 25 Standorten und das Bildungsangebot der Volkshochschule mit der Stadt. München hat mittlerweile 1,56 Millionen Einwohner, 150.000 mehr als vor zehn Jahren – Trend anhaltend.

Solche Investitionen in die Kultur sind nur bei einer stabilen Haushaltsentwicklung zu leisten. Trotz Corona und Einsparzwängen ist der laufende Kulturhaushalt in München angestiegen. Wir haben in diesem Jahr ein Plus von 23 Millionen. Außerdem habe ich den Eindruck, dass uns während der Coronazeit niemand verloren gegangen ist – insbesondere in der Freien Szene, wobei natürlich auch die Bundes- und Landesmittel geholfen haben. Wir haben unsere Fördermodelle flexibilisiert und weiterentwickelt.

Was haben Sie auf Ihrer To-do-Liste? Was wollen Sie als Kulturreferent noch umsetzen?

Begonnen habe ich mit sieben Handlungsfeldern, die meine kulturpolitischen Zielsetzungen formulieren: Demokratie stärken, Kulturbegriff weiten, Diversität leben, Bildung ermöglichen. Außerdem digitalen Wandel gestalten, nachhaltig entscheiden, Stadt entwickeln. Wir haben schon einiges erreicht, auf das wir aufbauen können. So haben wir z. B. im Rahmen der Projektreihe »Kunst und Inklusion« viele anregende Beispiele erhalten, wie kulturelle Teilhabe gelingen kann. Daran arbeite ich auch aktuell weiter.

Lassen Sie uns über Barrierefreiheit bzw. Inklusion in der Kultur sprechen. In München gibt es einige Pilotprojekte, unter anderem führen die Münchner Kammerspiele ab Februar in leichter Sprache und mit einem diversen sowie inklusiven Ensemble »Antigone« auf.

Ja, das macht anschaulich, was »Diversität leben« meint. Zu Beginn meiner Amtszeit habe ich in der Referatsleitung eine Stabsstelle Diversität eingerichtet, in der mittlerweile drei Mitarbeitende tätig sind. Das unterstreicht die Bedeutung des Themas auch in der Organisation. Diversität heißt für mich: Gleichstellung der Geschlechter, Inklusion von Menschen mit Behinderung und Offenheit für alle Milieus. Wir setzen Impulse, begleiten Veränderungsprozesse und fördern Pilotprojekte. Es ist großartig, dass viele Bereiche sich der Aufgabe angenommen haben!

Mittlerweile zählen mehrere Schauspielerinnen und Schauspieler mit Behinderung fest zum Ensemble der Kammerspiele. An das Theater ist die Otto Falckenberg Schule angegliedert, die die Förderung von Inklusion zu ihrem Thema gemacht hat. Da geht viel mehr, als wir zunächst glaubten. Die Freie Bühne München, ein inklusives Theater, feiert ebenso große Erfolge.

Jedes Jahr organisieren wir einen Inklusionstag, der weitere gute Beispiele sichtbar macht. Und in unserer Reihe »Themengeschichtspfade« ist eine Ausgabe zur Geschichte der Inklusion/Exklusion in München veröffentlicht worden. Damit verknüpft sind Rundgänge zu Orten in der Stadt, die Geschichte und Geschichten von Menschen mit Behinderung erzählen.

Die Stadtbibliothek in München ist eine sogenannte Open Library. Welche Idee steht dahinter? Was versprechen Sie sich von dem Ansatz?

Die Bibliothek als Dritter Ort neben Wohnung und Arbeitsstätte ist ja gerade in aller Munde. Besonders in Städten, in denen kommerzfreie Räume knapp sind. In München begreifen wir die vielen Bibliotheksstandorte schon seit Langem als offene Orte für alle. Neben Medien, Gamestationen und Lesegärten gibt es Arbeits- und Rückzugsräume – weitgehend barrierefrei und natürlich mit WLAN. Unsere Open Library im Gasteig HP8 hat Montag bis Sonntag von 7 bis 23 Uhr geöffnet. Medienrückgaben sind rund um die Uhr am Automaten möglich. Das sogenannte »late night learning« vor den Schulprüfungen wird an vielen Standorte sehr stark genutzt.

Das Thema Erinnerungskultur ist auch in Ihrem Fokus.

Gerade beschäftigten wir uns intensiv mit diskussionswürdigen Denkmälern. Das ist ja eine Thematik, die aus der Zivilgesellschaft kommt und die nicht nur München betrifft. Bei uns wurde zunächst eine Liste erstellt, mit welchen Denkmälern wir uns befassen sollten. Außerdem gab es künstlerische Interventionen im öffentlichen Raum in der Reihe »Past Statements«: z. B. überdimensionale Taubenspikes auf dem Siegestor, eine Maria-Luiko-Würdigung am Neptunbrunnen aus der NS-Zeit oder die Überschreibung eines Hakenkreuz-Gitters am Bayerischen Nationalmuseum. Ich bin den Beteiligten dankbar für ihre Aktionen, die »Public Art« und »Public History« verschränken. Damit haben sie uns zum Nachdenken angeregt über das, was wir im Vorbeigehen gar nicht mehr wahrnehmen. Denkmäler markieren ja den Stadtraum und haben eine Wirkung. Nun muss man im Einzelfall mit der Stadtgesellschaft aushandeln, wie wir mit problematischen Denkmälern umgehen. Abbauen, ändern, kontextualisieren? Am Ende entscheidet der Stadtrat, wie bei der Umbenennung von Straßen.

Er hat sich vor fünf Jahren auch festgelegt, in München anstelle der weitverbreiteten Stolpersteine Erinnerungszeichen an Hauswänden oder auf Stelen anzubringen. Damit folgte er dem Wunsch der hiesigen Israelitischen Kultusgemeinde, von Bodendenkmälern abzusehen.

Im Beisein der Überlebenden und des Bundespräsidenten hatten wir 2020 die Dokumentation Oktoberfestattentat auf der Theresienwiese eröffnet. 234 Menschen wurden bei diesem schwersten terroristischen Akt der Bundesrepublik 1980 getötet. Es hätte jeden treffen können, der damals auf der »Wiesn« war. Und bis heute gibt es ähnlich motivierte heimtückische, rechtsradikale Taten. Sie sind immer ein Anschlag auf unser Gemeinwesen. Daher müssen sie mit aller staatlichen Macht geahndet werden.

Public Art, Urban Art und Graffiti liegt ebenfalls in Ihrem Zuständigkeitsbereich.

Seit über 100 Jahren gibt es in München ein städtisches Kunst-am-Bau-Programm. Ein Ziel war und ist die Förderung von Künstlerinnen und Künstlern durch Auftragsvergaben. Insgesamt 1,5 Prozent des städtischen Bauvolumens fließen in Kunst. Die Hälfte des Geldes geht in dauerhafte Kunstwerke rund um die Baumaßnahmen. Die andere Hälfte mündet in temporäre Kunst im öffentlichen Raum. Dieses Programm, »Public Art«, ist bundesweit eines der am besten ausgestatteten.

Zum Thema Urban Art und Graffiti: Wir haben eine Ansprechpartnerin für die lokale Szene, die Genehmigungsprozesse begleitet und Fördermittel ausreicht. Die deutsche Graffiti-Szene ist ja in den 1980ern in München entstanden, als der bundesweit erste »Whole Train« besprüht wurde. Gleich zwei Ausstellungsorte – MUCA und Amuseum – widmen sich heute dieser Kunstform, die mit Murals, Tape Art und vielem mehr in der Stadt zu finden ist. Wir fördern lokale und internationale Netzwerke und Projekte mit rund 500.000 Euro.

Stadtteilkultur ist auch eines Ihrer Handlungsfelder – worauf legen Sie dabei konkret den Fokus?

Wir haben für 25 Stadtbezirke insgesamt 33 Stadtteilkulturzentren. Im Herbst 2023 werden es 34, und vier weitere sind in der Pipeline. Das zeigt die Bedeutung, die wir der Stadtteilkultur und der kulturellen Teilhabe beimessen. Alle sollen sich dort willkommen fühlen, ob sie nun selbst kreativ werden oder bei Veranstaltungen im Publikum sind. Unsere Kulturinstitutionen sind vor Ort zu Gast, das ist mir wichtig. Wir wollen dorthin gehen, wo die Menschen sind. Daher machen wir auch »Kulturstreetwork«. Das ist ein Experiment, um Menschen zu erreichen, die sich bisher von uns nicht angesprochen fühlen oder die Angebote schlicht nicht kennen.

Die ehrenamtlichen Strukturen in den Stadtteilkulturzentren kommen jedoch an ihre Grenzen. Wir vergeben die Trägerschaften daher künftig im Rahmen von Ausschreibungen an hauptamtliche Geschäftsführungen.

Neben diesen organisatorischen Veränderungen ist die größte Herausforderung, die Ressourcen fair an alle Bevölkerungsgruppen zu verteilen. Wir wollen offener, bunter werden – wie es die Stadtgesellschaft längst ist. Kürzlich war ich in einem Stadtteilkulturzentrum in Milbertshofen. Dort wurde zuerst eine inklusive Modenschau gezeigt, dann gab es ein Tanzen für alle und im Anschluss kam die Freiwillige Feuerwehr, um einen Rettungskurs abzuhalten.

Zum Abschluss: Was ist Ihr liebster Kulturort in München? Haben Sie einen Kulturtipp für unsere Leserinnen und Leser?

Sie wollen mich wohl in Schwierigkeiten bringen! Egal, wen ich jetzt hervorhebe, ich kann es aus Sicht der anderen nur falsch machen. Ich bin fast jeden Abend kulturell unterwegs und immer wieder beeindruckt, was es zu entdecken gibt.

Für Auswärtige ist sicherlich der Gasteig HP8 ein Tipp. Dort waren im ersten Jahr über 1.000 Veranstaltungen – von Kino bis Konzert, vom Mitsing-Angebot »Go sing choir« bis zur Schmuckwerkstatt, von der Musikbibliothek bis zum Atelier nebenan. Und fußläufig liegen das neue Volkstheater, das Kulturzentrum Luise und die Alte Utting. Das ist ein ausrangiertes Schiff auf einer Brücke mit Club und Kulturprogramm.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2023.