Es war wohl aus Trotz. Ich habe mir dieser Tage schnell noch eines der letzten Exemplare des dreibändigen Lehrbuchs der Dogmengeschichte gekauft, des Hauptwerks des großen Theologen Adolf von Harnack. Ob ich jemals darin lesen werde, weiß ich gar nicht. Aber die Sorge, dass eine solche Edition demnächst vom Buchmarkt verschwunden sein könnte, treibt mich um. Zudem habe ich noch Dan Diners wunderbare Enzyklopädie Jüdischer Geschichte und Kultur gekauft, ein Jahrhundertwerk, dessen prohibitiver Preis mich lange geschreckt hat. Und natürlich Walter Benjamins wichtigste Werke in einer handhabbaren fünfbändigen Kassette. Die Umstände lassen kein Abwarten mehr zu. Wer jetzt keine Bibliothek hat, kriegt sie nimmermehr. Denn die glanzvollen Reste der legendären Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt werden derzeit verramscht.
Über die modernen Antiquariate ergießt sich ein Bücherschatz, der sich über Jahrzehnte angehäuft hatte; der sich nicht geräuschlos entsorgen lässt und penetrant weiter strahlt, obwohl die Konkursverwalter und Abwracker längst ihre Arbeit getan haben. Was wohl niemand einkalkuliert hat: Der herbe Verlust wird jeden Tag sichtbarer. Mit der WBG, wie man sie seit 2018 lieblos nennt, ist kein gewöhnlicher Verlag liquidiert worden. Mit ihr verschwindet ein Stück nachkriegsdeutscher Bildungsgeschichte. Sie hat das Wissen von Generationen geprägt. Damals wollte man nur die riesigen Löcher schließen, die Diktatur und Bombenkrieg in die deutschen Bibliotheken gebrannt hatten. Aber zugleich war dieses praktische Unterfangen von Pathos getragen, als gäbe es sie es immer noch, die unzerstörbare humanistische deutsche Kultur. Bei der Gründung der »Wissenschaftlichen Buchgemeinschaft« rief man deshalb »alle Studenten, alle Studienräte, Juristen, Geistlichen, Ärzte, Lehrer, Naturwissenschaftler, alle Gebildeten und Buchliebhaber unseres Volkes« zu einem »großen Zusammenschluss« auf. Es war der Versuch, die tiefen Gräben zu schließen.
Dass sich unter den unbestrittenen Gründerfiguren wie Carlo Schmid oder dem Philosophen Wilhelm Weischedel auch noch die alten Nazis Ernst Anrich und Wilhelm Fricke befanden, Letzterer war einst als Brandredner bei der Bücherverbrennung in Göttingen aufgetreten, ist erst spät zum Thema geworden. Noch die Reden zum 50-jährigen Bestehen der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, 1999, hatten das braune Kapitel mit keiner Silbe erwähnt. Aber das passte zur Verdrängungsgeste der Gründungszeit. Die deutsche Nachkriegsdemokratie begann als ein heute fast unbegreifliches Amalgam aus den Trümmern unserer deutschen Geschichte. Diese Büchergemeinschaft war nur ein kleiner Teil davon.
Vielleicht ist die Gründung der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, wie sie dann später hieß, auch der vergebliche Versuch gewesen, über solche Abgründe hinwegtäuschen zu wollen. Die Illusion einer heilgebliebenen geistigen Welt war in den Bibliotheken des Bildungsbürgertums noch immer zuhause. Mein Onkel, der eigentlich Ingenieur war und in jungen Jahren die Gehversuche des neuen Mediums Fernsehen erlebte, hatte sich sogar die eigens angefertigten Echtholzregale der WBG gekauft, die eine solche gediegene Scheußlichkeit ausstrahlten, dass man darüber die Bücher vergaß. So etwa die milchgrauen Bände der »Wege der Forschung«, wie eine der berühmten Buchreihen hieß. Es gibt wohl kaum eine Hausarbeit, die ohne sie ausgekommen wäre. Damals hielt man das Wissen noch in der Hand.
Doch die Zeiten haben sich eben verändert, wie der erbärmliche Satz heißt, den man dann immer zu hören kriegt. Ich kenne das Achselzucken all derer, die mir erklären wollen, in welchem Zustand die heutige Bücherwelt ist. Sie sei eben auch zur Geschichte geworden, heißt der Kommentar in der Frankfurter Rundschau. Die Übernahme einiger Programmteile der WBG durch den Herder Verlag gilt den Kollegen immerhin als Asyl.
Aber sie gibt es noch, die halsbrecherischen Verleger. Matthes & Seitz fällt mir in diesem Zusammenhang ein. Oder Wagenbach. Oder Kadmos. Oder der unverwüstliche Klaus Bittermann mit seiner Edition Tiamat und viele andere mehr. Wer sich erinnert, denkt an die legendäre Hölderlinausgabe im Verlag Roter Stern. Auch sie ist Geschichte geworden. Und trotzdem: Jetzt ist im Insel Verlag die vollständige Übersetzung eines der großen chinesischen Volksromane erschienen – mit fast zweitausend Seiten auf Dünndruckpapier. »Die vollständige Überlieferung von den Ufern der Flüsse« heißt der nicht gerade prickelnde Titel. Der legendäre Anton Kippenberg hatte die alte Kuhnsche Version lieber die »Räuber vom Liang Schan Moor« genannt.
Ein großer Verleger wie Egon Amman musste einst vor dem Zeitgeist kapitulieren. Doch die leeren Räume, die er hinterlassen hat, sind sichtbar geblieben. Und die üblichen Begründungen reichen nicht aus. Die Digitalisierung sei schuld, heißt es mittlerweile zur Erklärung des Wandels – oder das Mediennutzerverhalten der Jungen. Was für ein schreckliches Wort. Ich habe das Entstehen der sozialen Medien hautnah selbst miterlebt, wie überhaupt den unvermeidlichen Siegeszug des Digitalen. Aber das hat meine Hoffnung auf die Fortexistenz der Bücherwelt eher bestärkt. Wer an das Verschwinden des Analogen glaubt, hat die digitale Welt nicht begriffen.
Man sollte sich nicht in einen falschen Wettbewerb begeben. Auch das kann man vom Ende der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft wohl lernen. Man hat dort die alte Patina abgeschrubbt, aber keine neue Idee darüber gebreitet. Es reicht eben nicht aus, nur so sein zu wollen, wie die anderen. Über diesem Irrtum ist man leise verblutet und hat es womöglich selbst nicht gemerkt. Jetzt werden wir Zeugen – und was den Geldbeutel anbetrifft auch Nutznießer – einer grandiosen Vergeudung. Mit der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft geht eine Ära zu Ende. Und eine besondere Lesergemeinschaftskultur. Die wird uns eines Tages womöglich fehlen. Aber das wird uns wohl erst auf Dauer bewusst.