Anlass für solch ein Projekt war die Beobachtung, dass die Bestattungskultur einen dramatischen Wandel erfährt: Immer weniger Erdbestattungen, immer mehr Urnenbeisetzungen. Immer weniger Grabpflege durch Wegziehen der Nachkommen. Wie sollen künftig Erhaltung und Gestaltung von Friedhöfen aussehen? Der Zeitpunkt schien richtig für eine Bestandsaufnahme aller evangelischen Friedhöfe in Bayern und einer Dokumentation des mit ihnen verbundenen kirchlichen Lebens. Dazu ist das Buch »Evangelische Friedhöfe in Bayern« erschienen, herausgegeben von Hans-Peter Hübner und Klaus Raschzok, in dem unterschiedliche Beiträge einen Blick auf die vielfältig historisch gewachsenen Gegebenheiten und die Bestattungskultur in den Kirchengemeinden werfen. Es gilt, den Reichtum der eigenen Traditionen und Formen in den Bereichen Geschichte, Kunst, Kultur, Theologie und Spiritualität wahrzunehmen und Linien der eigenen Identität zu entdecken und aufzuzeigen.  

Ein wichtiger Aspekt dabei ist der Versuch, durch Kunst und Kultur unsere Friedhöfe als Erlebnisräume und als Orte des Innehaltens, des Nachdenkens und auch der Hoffnung neu wahrzunehmen. Frei nach Carlo Scarpa wäre es eine schöne Vorstellung, Friedhöfe wären »Orte der heiteren Gelassenheit«. Das Kunstreferat der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern hat eine Konzeption eines temporären Kunstprojekts für das Jahr 2022 unter dem Titel »unendlich schön …« entwickelt. Angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine und der dramatischen humanitären Lage dort machte sich ein Gefühl von Erschütterung und Ohnmacht breit. Der Titel hätte als sarkastisch verstanden werden können und wir entschlossen uns, ihn in »unendlich still …« abzuändern. 

Das Wagnis war die Erprobung des Umgangs mit den Voraussetzungen. Die Kommunikation mit den Zuständigen vor Ort war zeitaufwendig. Ansprechpartner waren die unterschiedlichsten Gruppen, wie Kirchenverwaltungsstellen, Kirchengemeinden, Friedhofsausschüsse, Friedhofsverwalter usw. Überzeugungsarbeit war nötig. Innenräume für Videoarbeiten oder für Rauminstallationen oder auch Bilder und Grafiken waren kaum verfügbar. Die Finanzierung war spät gesichert. Der Kulturfonds Bayern beteiligte sich mit knapp einem Drittel, der Verein Ausstellungshaus (VAH) gab ein Drittel – dies zeigt die Relevanz des Projekts auf staatlicher, gesellschaftlicher und ökumenischer Ebene. 

Alle angefragten Künstler, bis auf wenige Ausnahmen, sagten sofort zu und ließen sich auf die Bedingungen ein. Die Hälfte aller Kunstwerke wurde eigens für die Ausstellung angefertigt – und unter den Gesichtspunkten des Ortsbezugs, der künstlerischen Qualität und Vielfalt, der Kongruenz von Form und Inhalt kuratorisch begleitet und ausgewählt. Die künstlerischen Interventionen griffen vielfältige historische Motive auf und spielten mit ganz unterschiedlichen Materialien, Ausformungen und sinnlichen Ausdrucksweisen, z. B. Video, Fotografie, Malerei, Zeichnung, Sound, Installation, Skulptur.  

So wurden sinnlich wahrnehmbare Signale gesetzt, die den Friedhof als wertvollen Kulturraum ausweisen und den Ort der Toten mit Leben erfüllen. Die Ausstellung »unendlich still …« fand vom 1. Mai bis 30. September 2022 zeitgleich an sechs Orten statt, und zwar auf je einem Friedhof in den sechs Kirchenkreisen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Ein umfangreiches Begleitprogramm mit je eigenen Eröffnungsveranstaltungen, Künstlergesprächen, Vorträgen und Konzerten war vor Ort in Kooperation mit den regionalen Kunstbeauftragten der Kirchenkreise im Gange. Der Ausstellung gelang es, beispielhaft zu zeigen, wie Kunst eine Friedhofsanlage zu einem lebendigen Denk- und Experimentierraum erweitern kann. 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2022.