In diesen beunruhigenden Zeiten reden wir viel über Waffen und geostrategische Fragen, aber erstaunlich wenig über Kultur, die unter Schönwetterbedingungen gerne als die dritte Säule der außenpolitischen Beziehungen unseres Landes gehandelt wird. Was hört man von den großen Kulturinstitutionen, die in ihrer Arbeit von der Situation im Osten Europas unmittelbar betroffen sind? Dem Goethe-Institut etwa, das sich ja nie als ein Instrument nationaler Repräsentationskultur verstanden hat und seit sieben Jahrzehnten seine sensiblen Fühler in die Welt hinausstreckt.

Unlängst hat sich Kathinka Dittrich van Weringh noch einmal zu Wort gemeldet, eine der großen Kulturbotschafterinnen unseres Landes in den 1980er, 1990er Jahren. Sie hat davor gewarnt, jetzt alle Verbindungen nach Russland abreißen zu lassen und das Land, seine Menschen, seine Kultur der brutalen Aggressionspolitik Putins zu überlassen. Sein Krieg gegen die Ukraine ist auch ein Krieg gegen den Wandel im eigenen Land. Kathinka Dittrich hatte bald nach dem Mauerfall das erste Moskauer Goethe-Institut gegründet, und wer ihre vor wenigen Jahren im Dittrich Verlag erschienenen Lebenserinnerung liest, spürt noch immer jenen Geist der Freiheit und des Aufbruchs, der damals den Osten durchzog. Man darf dem Trugschluss eben doch nicht erliegen, dass das schreckliche Ende aller Illusionen, das wir heute erleben, schon damals seinen unvermeidlichen Ausgang nahm. »Wann vergeht Vergangenheit?« hat sie in ihren Lebenserinnerungen gefragt. Man kann ihr heute die bittere Gewissheit geben: offenbar nie.

Es war eine noble Geste der neuen Präsidentin des Goethe-Instituts, Carola Lentz, zum 70-jährigen Jubiläum des Hauses im vergangenen Jahr, noch einmal einige jener prägenden Gestalten zu Wort kommen zu lassen, auf denen das Ansehen des Instituts bis heute beruht. An die Gründergeneration nach dem Krieg wird man sich kaum noch erinnern können, aber sie haben die nie unumstrittene Distanz zur offiziellen Politik schon damals begründet. Das ist die besondere Handschrift geblieben.

Die unvermeidlichen Kämpfe darum kann man im Buch von Carola Lentz und ihrer Co-Autorin Marie-Christin Gabriel über die Geschichte des Goethe-­Instituts nachlesen (Klett-Cotta Verlag), das mehr sein will als nur eine Festschrift aus gegebenem Anlass. Man kann darin auch das ernsthafte Bestreben der neuen Präsidentin sehen, sich eine Vorgeschichte zu eigen zu machen, mit der sie als Hochschulprofessorin und Afrikanistin nicht von Haus aus vertraut war. Feldforschung im eigenen Betrieb ist keine ganz unheikle Sache und man spürt, dass sie Vertrautheit herstellen will, wo es diese vielleicht noch nicht gibt. Denn es war schon ein kulturpolitisch unüberhörbares Statement, eine Ethnologin zu berufen, die mit den Emanzipationsprozessen im globalen Süden vertrauter war als mit dem eingespielten Kulturbetrieb im arrivierten Norden.

Auf den verliebten Schwanengesang der Generation 68 hätte man allerdings gerne verzichten können. Manche Kon­troversen von damals wirken inzwischen verzopft. Und der zahnlos gewordene konservative Wolf frisst längst keine politischen Rotkäppchen mehr. Natürlich waren die Goethe-Institute – und man muss das im Plural sagen – immer auch ein getreuliches Abbild ihrer Verhältnisse. Aber die alte Glaubensfrage, in welche Richtung man sich überhaupt einmischen dürfe, ist im Zeitalter transkultureller Durchdringungen und diverser Projekte längst schon entschieden. Die frühen Zweifel an der Legitimität kultureller Repräsentation – lange vor den heutigen Postkolonialismusdebatten – zählen allerding zum intellektuellen »Tafelsilber« dieser Institution. Dass man sich dabei zugleich auch als Rückwirkungsagentur auf das eigene Land verstand, gehört zum Selbstverständnis des Goethe-Instituts bis heute.

Umso erstaunlicher ist der andere rote Faden, der sich durch die Geschichte des Hauses zieht, seine Finanzlage, die häufig prekär war. Man will es einfach nicht glauben, dass eine reiche Kulturnation wie die unsere, ihre mitunter wichtigsten kulturellen Botschafter so an der finanziell kurzen Leine hielt. Die Distanz zur Politik war mitunter teuer erkauft, und mit der eigenwilligen kulturellen Außenvertretung machte man sich nicht nur Freunde. Immer wieder stößt man in der 70-jährigen Geschichte des Goethe-Instituts daher auf den Zwang, abwägen zu müssen, in welcher Weltgegend man sich mehr engagiert und wo nicht. Man kann diese merkwürdige deutsche Weltblindheit, gegen die das Goethe-Institut immer stand, gerade wieder an der Universität Halle sehen, wo nicht nur die klassische Indologie zur Disposition gestellt wird, sondern eine moderne Südasienkunde, in deren Zuständigkeit eine der stärksten Wachstumsregionen der Welt gehört.

Die Quittung für solche eingeschränkten Sichtweisen bekommt Europa und gerade Deutschland doch mit der dramatischen Entwicklung in der Ukraine. An warnenden Stimmen fehlte es nicht. Dass die im Osten Europas wiedererwachte Geschichte in den letzten Jahrzehnten so gänzlich anders verlaufen ist, als wir hofften, ist eine bittere Tatsache. Aber von einer überraschenden Zeitenwende zu sprechen, zeigt nur wie wenig wir zuvor wahrnehmen wollten. Dass solche Entwicklungen über manche Bücher hinwegschwappen, noch bevor man sie richtig zur Kenntnis nimmt, ist ein Schicksal, das auch diese jüngste Geschichte des Goethe-Instituts nicht verschont. Über Nacht ist eben alles ganz anders. Was gestern noch zukünftig schien, bestimmt heute die Vorkriegsdebatten. Der Blick in den globalen Süden; die Diskurse um koloniales Erbe und postkoloniale Verantwortung; die Kämpfe um eine sich immer diverser verstehende Gesellschaft; das alles wird überrascht von einem Geschehen, das in keine unserer heutigen Vorstellungswelten passt. Nicht Putins Angriff und der Umstand, dass er ihn riskierte, ist das wirklich Unerhörte an diesem Krieg, sondern der unerwartete Widerstand der Ukraine, in dem sich vor unser aller Augen die Selbstfindung einer jungen Nation vollzieht. Für fast nichts, was wir dort sehen, hatten wir im postmodernen Gesellschaftsdiskurs die zureichenden Begriffe parat: für das Heldentum nicht, mit dem sich die jungen Ukrainer wehren, für ihre Heimatliebe, ihren Nationalstolz, ihren Freiheitswillen und das Beharren auf einer eigenen, demokratischen Zukunft. Man könnte fast ketzerisch sagen: Was die deutschen Kritiker um Alice Schwarzer wohl am meisten irritiert, ist nicht der Krieg Putins, sondern dass sich die Ukrainer gegen ihn wehren.

Wenn man in den Fußnoten des Buchs von Carola Lentz über das Goethe-Institut blättert, dort auf die üblichen Perspektiven einer postnationalstaatlichen oder eigentlich postnationalen Kulturpolitik trifft und Forderungen, wie der nach einer »Entheimatisierung« von Heimat, dann ahnt man etwas von der Verständnislosigkeit, die unser Verhältnis zur Ukraine bestimmt. Wenn jedoch die Fähigkeit, sich dem historischen Wandel gegenüber zu öffnen, tatsächlich zum Grundbestand des Goethe-Instituts gehört, dann wird man den aktuellen Überzeugungskanon dort baldmöglichst einer kritischen Überprüfung unterziehen müssen. Carola Lentz hat am Schluss ihres Buches die dringlichsten Handlungsfelder benannt. Sie wird sie um die neuen Erkenntnisse aus dem Krieg gegen die Ukraine erweitern müssen, wenn ihr Institut nicht in jenem transnationalen Meinungsstrom weiterschwimmen will, den es so gar nicht mehr gibt.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2022.