Die Entzauberung der Grünen im Alltag dieser Regierung geht weiter. Jene Partei, die einmal die frischeste Farbe der Ampelkoalition sein wollte, wird von den Krisen und Problemen genauso erdrückt wie die anderen Koalitionspartner. Eigene Projekte? Kaum umsetzbar. Eigene Ideen? Auf Wiedervorlage gelegt. Und auch die vielen jungen Gesichter des Klimaprotests passen nicht mehr ins Bild der deutlich grauer gewordenen Regierungspartei. Nach Wirtschaftsminister Robert Habeck, dem man die tägliche Überforderung inzwischen körperlich ansieht, gerät jetzt auch die Bundeskulturministerin Claudia Roth in den Blick, der man bisher zugutehalten konnte, noch der einzige wirklich bunte Vogel im Kabinett zu sein. Mir ist sie trotz allem sympathisch geblieben. Obwohl das bescheidene Bohren ganz harter politischer Bretter ihre Sache nie war. Bei der verunglückten Kassler documenta ist Roth noch mit dem blauen Auge davongekommen. Weil sie rechtzeitig gemerkt hat, wie eng es dort wird. So hat sie den Vorwurf, nicht so genau hingeschaut zu haben, wohl nur deshalb heil überstanden, weil es in Kassel schnell andere Sündenböcke gab. Ihre Grundsympathie für dieses krude Konzept war dann auch schnell vergessen. Inzwischen aber beginnt es in ihrem eigenen Verantwortungsbereich selbst zu rumoren. Durch die Kultureinrichtungen der Republik pfeift ein eiskalter Wind. Es geht jetzt ums Heizen und Frieren. Selbst die Bayerische Staatsoper, die größte und erfolgreichste Deutschlands, muss nicht zuletzt aus Kostengründen eine Neuproduktion ins kommende Jahr schieben. Das schreckt die Branche auf. Es laufe etwas schief in der Finanzierung der Hochkultur, mahnt deshalb die Süddeutsche Zeitung. Und Andreas Kilb spricht in der Frankfurter Allgemeinen von einem »verlorenen Jahr der Kulturpolitik«. Damit meint er vor allem die kulturellen Großbaustellen der Hauptstadt, wo weitgehend Stillstand herrscht. Die Neuordnung der Preußenstiftung lässt genauso auf sich warten, wie der Baufortschritt des Museums der Moderne; und die Zukunft des Humboldt Forums ist ohnehin ungeklärt. Während sich am Kulturforum offenbar wieder die Kräne drehen und die »Kulturscheune« jetzt ein Solardach bekommen soll, hört man aus der Preußenstiftung nur, dass sich wenig bewegt und es vor allem der Name Preußen sei, der die Ministerin stört. Weil ein Haus, das Preußens Kulturerbe bewahrt, natürlich nicht mehr so heißen darf, wie es jahrzehntelang hieß.  

Auch die Pläne, das Humboldt Forum dort zu integrieren, können einem nicht ganz geheuer sein. Denn im Humboldt Forum kann man vor allem lernen, wie man Kulturbetrieb auf Kosten der lästigen Sammlungen macht. Viel dringlicher als die überfällige Neuordnung der Strukturen scheinen für Claudia Roth allerdings die Bibelverse auf der Schlosskuppel zu sein. Wenigstens nachts will man sie jetzt überblenden mit Botschaften, die der Ministerin offenbar wichtiger sind als die zu lesenden christlichen. Was selbst dem moderaten Berliner Bischof Christian Stäblein über die Hutschnur ging, der ihr vorhielt, einen neuen Kulturkampf zu provozieren. Dass die Worte sich vor die Dinge stellen, hatte freilich schon Hugo von Hoffmannsthal einst befürchtet und ihn zu der Warnung veranlasst, dass das Hörensagen allmählich »die Welt verschluckt«. Es geht eben nicht um den sorgfältigen Umgang mit den Beständen. Man nutzt sie lieber für eigene Zwecke und will sie mit neuen Botschaften überschreiben. Am Ende käme man auch mit den Texttafeln aus. 

Kulturpolitik sei Verwaltungshandeln, heißt es mahnend bei Kilb. Doch was man darüber aus dem Haus der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien hört, sind die Klagen, dass das »Zusammenspiel zwischen Apparat und Leitung« nicht mehr funktioniere und die einst vorhandenen Zuständigkeitsketten unterbrochen seien. Was einen unweigerlich an den scheuen Sieghardt von Köckritz zurückdenken lässt, der unter Helmut Kohl der heimliche Kulturminister war. In aller Bescheidenheit hat er einst dafür gesorgt, dass viele Kulturinstitutionen im Osten den Prozess der Vereinigung überlebten. Man könnte auch den robusten Bernd Neumann nennen. Als Staatsminister hat er der Kultur das nötige Geld besorgt und sie ansonsten in Ruhe gelassen. 

Dass sich Claudia Roth mit einem solchen, zurückgenommenen Rollenverständnis nicht zufriedengeben will, war zu erwarten gewesen. Ein bisschen Bohei gehört zu diesem Amt freilich dazu. Trotzdem beginnt sie, Funktion und Person zu vermischen, was eine geradezu lästige Zeiterscheinung geworden ist. Roth ist jetzt eben nicht nur Ministerin, sie will zugleich auch ihre oberste Bundesaktivistin sein. Dieses Missverständnis ihrer Rolle passt wunderbar in unsere Zeit. Es geht inzwischen immer mehr um Haltung und Gesinnung; den Sachverstand gibt es im besten Falle gratis dazu. 

Man kann diese Tendenz allenthalben beobachten. Selbst in den Wissenschaften werden heute Haltungsnoten vergeben. Man schreibt auch keine Geschichtsbücher mehr, man ergreift jetzt mit ihnen Partei. Und Sonja Zekri fragt in der Süddeutschen Zeitung völlig zu Recht, was eine solche Parteinahme denn für die Freiheit der Forschung bedeute? Ist das noch Wissenschaft oder nicht längst Politik? Oder auf Claudia Roth bezogen: Ist das noch Politik oder nicht doch schon Aktionismus? Um den Bogen wieder zur Kulturministerin zu schlagen: Vielleicht rührt die lauter werdende Kritik an ihrer Amtsführung eben weniger von ihren offenen Baustellen her als von ihrem so offen zur Schau getragenen Selbstverständnis. Die Kulturschaffenden in diesem Land, die nicht wissen, wie sie ihre Ateliers heizen und ihre Galerien unterhalten sollen, brauchen keine Bundessymbolpolitik, sondern jemand, der sich um ihre Belange kümmert. Das sollte jemand sein, der sich an die bekannten Spielregeln hält: Die Politik setzt die Rahmenbedingungen, die Inhalte machen andere. Eine alternative Amtskultur wollen wir nicht. Und auch nicht eine einseitig grüne. 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2022 – 1/2023.