Sie sind unbestreitbar selbstverständlicher Bestandteil der Friedhofskultur in Deutschland: die jüdischen Friedhöfe. 2.400 dieser Kulturorte legen sichtbares und erfahrbares Zeugnis davon ab, wie tief verwurzelt das Judentum in unserer Geschichte, unserer Gesellschaft, unserem Land ist. Ihre zum Teil Jahrhunderte alten Gräber lassen sich auch als stille Zeugen unserer Kulturgeschichte lesen, denn die einzigartige Art jüdischer Bestattungs- und Erinnerungsrituale bereichert – wie das jüdische Leben an sich – unsere kulturelle Identität um eine wichtige Säule. Dass allein hierzulande vier jüdische Friedhöfe zum UNESCO-Welterbe zählen, unterstreicht dies eindrucksvoll. Und ihre Bedeutung, Faszination und Ausstrahlung spiegelt nicht zuletzt auch der größte jüdische Friedhof Europas, der Jüdische Friedhof Berlin-Weißensee.

Auf 420.000 Quadratmetern Fläche haben hier im Norden Berlins über 115.000 Menschen ihre letzte Ruhestätte gefunden, darunter viele herausragende Persönlichkeiten wie der Widerstandskämpfer Herbert Baum, der Verleger Samuel Fischer – Gründer des Fischer-Verlags – oder der Schriftsteller Stefan Heym. Da auf jüdischen Friedhöfen die Verstorbenen ein ewiges Ruherecht besitzen, finden sich auf der 1880 angelegten Kulturstätte viele alte Grabsteine. Anders als auf den meisten jüdischen Friedhöfen prägen in Weißensee aber auch zahlreiche repräsentative große Grüfte, Gedenkanlagen und Mausoleen das Bild. Sie stehen – wie der ganze Friedhof – unter Denkmalschutz.

Ein großer Teil des Friedhofs zeigt sich wildromantisch. Das liegt vor allem daran, dass im Judentum Grabpflege unüblich ist. So kommt es, dass die Natur allenthalben den Friedhof dominiert, dass viele Gedenksteine überwuchert oder von Baumwurzeln in Schieflage gebracht wurden. Der Würde des Ortes, der Erinnerung an die Verstorbenen oder dem Gemeindeleben tut dies allerdings keinen Abbruch, im Gegenteil: Der Friedhof Weißensee ist auf vielfältige Weise ein faszinierender Kulturort.

Die Geschichte dieses jüdischen Friedhofs ist – wie die aller jüdischen Friedhöfe in Deutschland – untrennbar mit der Shoa und dem Grauen des Nationalsozialismus verbunden. Dass trotz der radikalen Zerstörung und Vernichtung 2.400 Friedhöfe erhalten geblieben sind, hat übrigens einen einfachen Grund: Die Nationalsozialisten fokussierten sich auf die Lebenden, die Toten blieben weitgehend außen vor. Außerdem gab es unter den Nazis den Aberglauben, dass eine Art Golem, ein Geist, die Friedhöfe beschütze. So erklärt es sich, dass vielerorts die jüdischen Friedhöfe heute die einzigen historischen Zeitzeugen jüdischen Lebens sind. Aber auch wenn während des Nationalsozialismus diese Kulturorte weitgehend verschont blieben, gab es doch immer wieder Grabschändungen – und leider müssen viele jüdische Gemeinden diese auch heute noch beklagen: Umgestoßene Grabsteine und Beschmierungen sind nach wie vor eine der hässlichen Fratzen des Antisemitismus. Besonders schlimm war es in Weißensee 1999, als am 3. Oktober über 100 Grabsteine zerstört wurden.

Auf dem von Hugo Licht entworfenen Friedhof gedenkt man der sechs Millionen Opfer des Holocausts auf vielfältige Weise. Direkt am Friedhofseingang befindet sich eine Gedenkstätte für alle Ermordeten der Vernichtungslager, die kein Grab fanden, weil ihre Asche verstreut wurde. In der Mitte eines Rondells steht ein zentraler Gedenkstein der Jüdischen Gemeinde zu Berlin mit folgender Inschrift: »Gedenke Ewiger was uns geschehen. Gewidmet dem Gedächtnis unserer ermordeten Brüder und Schwestern 1933 – 1945 und den Lebenden die das Vermächtnis der Toten erfüllen sollen.« Außerdem gibt es ein Urnenfeld mit der Asche von 809 in Konzentrationslagern ermordeten Juden. Auf dem Friedhof befinden sich zudem 1.650 Gräber von jüdischen Bürgerinnen und Bürgern, die sich während des Naziregimes das Leben nahmen. Und an vielen Gräbern sind die Namen von ermordeten Familienmitgliedern zu lesen, auch wenn sie hier keine letzte Ruhstätte finden konnten. Sehr besonders ist eine »Beisetzungsstätte« für 90 Thorarollen, die in der Reichspogromnacht am 9. November 1938 geschändet wurden. Ursprünglich versteckten Mitglieder der Jüdischen Gemeinde zu Berlin 583 Thorarollen in der im neogotischen Stil errichteten Feierhalle im Südostteil des Friedhofs. Die meisten konnten nach Kriegsende den jeweiligen Gemeinden zurückgegeben werden. Die auf dem Friedhof beigesetzten Schriften allerdings waren so stark beschädigt oder verbrannt, dass eine Weitergabe sinnlos war.

Die große Bedeutung der jüdischen Friedhöfe in Deutschland unterstreicht auch der Zentralrat der Juden. Zur Ernennung der »Friedhofskultur in Deutschland« zum Immateriellen Kulturerbe 2020 schrieb Geschäftsführer Daniel Botmann: »Die Friedhofskultur, wie wir sie kennen, Friedhöfe als immaterielles Kulturerbe, wären ohne das Judentum nicht denkbar … Friedhofskultur und Judentum sind eng miteinander verflochten und ohne einander nicht denkbar. Und daher begrüßt der Zentralrat die Entscheidung der UNESCO ausdrücklich, Friedhöfe als immaterielles Kulturerbe auszuzeichnen.«

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 7-8/2024.