»Ich habe dir bereits fünfmal wegen des Testaments unseres Vaters geschrieben, aber du hast mir nie geantwortet, und du informierst und unterstützt mich nicht.« Der Mann, der diesen Brief schrieb, hatte eine schwere Zeit. Er hatte es nicht mehr rechtzeitig ans Sterbebett seines Vaters geschafft, und nun behauptete sein jüngerer Bruder, der Vater hätte vor seinem Tod noch ein neues Testament aufgesetzt. Unser Mann hatte seine Zweifel und wollte einen Blick auf das ursprüngliche Dokument werfen, auf das seine weit entfernt lebende Schwester Zugriff hatte. Er setzte sich also zum wiederholten Male hin, nahm ein bisschen Lehm, formte eine Tontafel und schrieb seiner Schwester einen Brief – in Keilschrift, vor 4.000 Jahren.

Von Bildern und Dreiecken

Der Name der Schrift leitet sich von ihrem Aussehen ab: Keilschrift setzt sich aus dreieckigen Keilen zusammen, die entweder horizontal, vertikal oder diagonal ausgerichtet sind. Da die Schrift, wie unsere heutigen lateinischen Buchstaben, von links nach rechts geschrieben und gelesen wurde, zeigen die Keile auch in diese Richtung, das heißt, ihre Spitze weist entweder nach rechts oder nach unten. Die dreieckige Form entstand dadurch, dass die Kante des Schreibgeräts, üblicherweise ein geschnittenes Schilfrohr, in weichen Ton gedrückt wurde. Zurück blieb ein kleiner Keil.

Jedes Schriftzeichen der Keilschrift, im Englischen auch »cuneiform« von Latein »cuneus« (»Keil«), setzt sich aus diesen Dreiecken zusammen. Es gibt sehr einfache Zeichen, die nur aus ein, zwei oder drei Keilen bestehen. Manch andere sind aber auch sehr komplex mit mehr als zehn Keilen.

Keilschrift ist eine der ältesten Schriften der Welt. Unser Briefschreiber, sein Name lautete Ennam-Aschur, verfasste seinen Text vor knapp 4.000 Jahren. Die Schrift selbst ist aber mehr als 1.000 Jahre älter. Die frühesten beschriebenen Tontafeln stammen vom Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. aus Städten im Gebiet des heutigen Südirak. Zu dieser Zeit hatte die Keilschrift aber noch nicht ihren keilförmigen Charakter. Vielmehr sahen die Schriftzeichen wie kleine Bilder aus, die in den Ton geritzt wurden. Sie repräsentierten zu Anfang ganze Worte, z. B. Handelswaren wie Schafe oder Getreide.

Zur Zeit von Ennam-Aschur hatte die Schrift bereits ihren abstrakten Charakter angenommen, und die Menschen verfassten nicht nur einfache Warenlisten, sondern auch Eheverträge, astronomische Tagebücher und Diagnosehandbücher.

Nicht in Stein gemeißelt

In ihrer mehr als 3.000-jährigen Geschichte – die letzten Tontafeln datierenin das 1. Jahrhundert n. Chr. –, wurde Keilschrift bis weit über die Grenzen ihres Ursprungsgebiets Mesopotamien hinweg genutzt, zeitweise sogar in der Türkei und in Ägypten. Das typischste Schreibmaterial blieb dabei immer das gleiche: Ton. Mit ihm baute man Häuser, töpferte Gefäße und Schalen und formte auch Tontafeln, auf denen geschrieben wurde. Von Ennam-Aschurs Zeit zu Beginn des 2. Jahrtausends v. Chr. kennt man vor allem die Tontafeln – Briefe, Rechtsdokumente und Notizen – von reisenden Händlern, die in einer Siedlung in Zentralanatolien, fern der Heimat, gefunden wurden. Diese Tafeln sind selten größer als eine Handfläche. Das hatte den Vorteil, dass sie leicht zu handhaben und ebenso leicht zu transportieren waren. Doch es gibt auch Tafeln von der Größe einer Briefmarke bis hin zu Exemplaren größer als ein DIN-A4-Blatt, nur entsprechend dicker.

Bei den Tafeln wurde üblicherweise Vorder- und Rückseite beschrieben, wobei die Tontafel nicht wie ein Blatt Papier horizontal, sondern vertikal gedreht wurde. Zusätzlichen Platz für Text boten teilweise auch die Seiten der Tafel. Ennam-Aschurs Brief an seine Schwester ist im wahrsten Sinne des Wortes voll beschrieben. Er begann auf der Vorderseite, setzte den Text über den unteren Rand und die Rückseite bis zur oberen Kante fort, um schließlich die letzten Sätze auf der linken Seite zu schreiben. Die rechte Seite diente als zusätzlicher Raum, sollte eine Zeile auf der Vorder- oder Rückseite mal zu lang werden – Ennam-Aschur durfte hier also über den Rand schreiben.

AN wie Himmel

Es gibt ein Keilschriftzeichen, das wie ein Stern aussieht: Ein horizontaler und ein vertikaler Keil bilden ein Kreuz, der Schnittpunkt der beiden wird zusätzlich von zwei schrägen Keilen gekreuzt. Voilà. Gelesen wird dieses Zeichen als AN, das sumerische Wort für »Himmel«. Es kann aber auch DINGIR heißen, was so viel wie »Gott« oder »Gottheit« bedeutet. Im Akkadischen kann das sternförmige Zeichen aber auch als die Silbe »an« oder »il« gelesen werden. Doch fangen wir von vorne an.

Keilschrift ist kein Alphabet mit einzelnen Buchstaben, sondern ein System aus Schriftzeichen, die Silben und ganze Wörter repräsentieren können. Die erste Sprache, die mit Keilschrift ausgedrückt wurde, war Sumerisch. Die ältesten Texte sind einfache Listen von Objekten, die mit bildhaften Zeichen dargestellt werden konnten. So wurde z. B. der Himmel durch einen Stern symbolisiert. Mit der Zeit wurden die Texte aber komplexer, und es wurden Keilschriftzeichen benötigt, um auch abstrakte Begriffe und grammatikalische Elemente darzustellen. Eine Möglichkeit war, neue Keilschriftzeichen zu entwickeln oder bekannte Zeichen umzufunktionieren, basierend auf dem Klang eines Wortes oder einer Silbe. Das sumerische Wort für »Himmel« ist AN. Um die Silbe »an« zu schreiben, konnte also das gleiche Schriftzeichen verwendet werden. Als sich gegen Ende des 3. Jahrtausends v. Chr. die akkadische Sprache in Mesopotamien ausbreitete und die Keilschrift übernahm, wurde diese Multifunktionalität der Schriftzeichen noch weiter ausgebaut. Das akkadische Wort für »Gott« ist »ilum«. Das sternförmige Keilschriftzeichen konnte nun auch für die Silbe »il« genutzt werden. Die akkadischen Schreiber beschränkten sich aber nicht auf den Gebrauch von Silben, sondern sie vermischten häufig Silben- und Bildzeichen und überließen es dem Leser – auch dem heutigen –, die Bedeutung der Schriftzeichen, je nach Kontext, zu interpretieren.

Schreiben nicht nur für Fortgeschrittene

Insgesamt gibt es etwa 1.000 Keilschriftzeichen. Welche davon jedoch genutzt wurden, hing stark von Epoche und Ort ab. In der Zeit unseres Briefschreibers Ennam-Aschur, der sogenannten altassyrischen Zeit, zählt man ungefähr 150 bis 200 regelmäßig genutzten Zeichen. Für ein alltägliches Dokument wie einen Brief reichten sogar um die 80 Schriftzeichen. Aber auch diese mussten erst mal gelernt werden.

Schreiben konnten zur damaligen Zeit vielleicht mehr Menschen, als man denkt. Allerdings gehen Assyriologen von sehr unterschiedlichen Niveaus aus, und die Fähigkeit eines Schreibers hing stark davon ab, ob und wie viel er schreiben musste. Professionelle Schreiber arbeiteten z. B. in der Kanzlei des Königs oder eines hohen Würdenträgers. Mit dem Schreiben verdienten sie ihren Lebensunterhalt und kannten daher auch ungewöhnliche, seltene und sehr komplexe Zeichen. Ein einfacher Töpfer oder Bauer hatte andererseits vermutlich recht wenig Verwendung für Keilschrift und konnte, wenn überhaupt, nur wenige Zeichen lesen und schreiben.

Für Händler war die Schrift ein wichtiges Mittel der Kommunikation. Unser Ennam-Aschur verbrachte die meiste Zeit seines Lebens – jedenfalls soweit wir wissen – unterwegs in Anatolien. Er gehörte zu Händlern aus der Stadt Aschur im heutigen Irak, die über Jahrzehnte ein großes Handelsnetzwerk mit etwa 30 Siedlungen in Zentralanatolien aufgebaut hatten und operierten. Diese Händler reisten, lieferten Waren, forderten Bezahlungen, sie heirateten, sie schmuggelten, sie klagten sich gegenseitig an – vieles davon in schriftlicher Form.

Mehr als 22.000 Keilschrifttafeln wurden bislang in Kanesch, dem Zentrum des Handelsnetzwerkes gefunden. Die schiere Menge der Tafeln ist bereits ein Indikator, dass viele der Händler schreiben konnten. Ein weiteres Indiz sind die unterschiedlichen Niveaus der Handschriften. Während sich auf manchen Tafeln fein und gleichmäßig geschrieben Schriftzeichen aneinanderreihen, sind auf anderen Tafeln große, grobe Zeichen und Rechtschreibfehler zu finden, die keinem halbwegs erfahrenen Schreiber unterlaufen dürften.

Der persönliche Eindruck

1994 wurde in Kanesch die Ruine eines Hauses ausgegraben. In zwei kleinen Räumen an der Rückseite des Hauses entdeckten die Archäologen über 1.100 Keilschrifttafeln. Diese Texte erzählen uns von den Menschen, die dort gelebt haben: Ennam-Aschur und seine Familie. Unser Briefschreiber ist in gut einem Drittel der Texte genannt, was ihn vermutlich zum Haupteigentümer des Hauses macht, das mindestens zwei Generationen der Familie beherbergte. Doch nicht nur das: Eine Handschrift ist etwas sehr Individuelles. Die von Ennam-Aschur zeichnet sich durch viele kleine Eigenheiten aus, die sie aus der Masse der anderen Keilschrifttexte hervorstechen lassen. Ein Vergleich der Tafeln im Familienarchiv hat gezeigt, dass er viele der Texte selbst geschrieben hat.

Viele davon betreffen ihn und sein Geschäft. Doch der Handschriftenvergleich brachte noch mehr zutage. Zum einen kopierte er Texte von Familienmitgliedern und Kollegen, die ihn betrafen. Zum anderen erlaubt uns der Vergleich einen Blick in Ennam-Aschurs Leben, das ansonsten nicht dokumentiert ist. Wie viele junge Männer arbeitete er vermutlich am Anfang seiner Händlerkarriere für seinen Vater. Er transportierte Waren und handelte mit Geschäftspartnern. Was uns die Handschriften nun verraten haben, ist, dass er für seinen Vater auch Schreibarbeiten übernahm und in jungen Jahren vielleicht sogar als eine Art Sekretär fungierte.

Schwindende Spuren

Bisher wurden wahrscheinlich mehr als eine Million Keilschrifttafeln gefunden, die von Kulturen und Gesellschaften aus drei Jahrtausenden berichten. Nicht nur Könige und Würdenträger kommen darin zu Wort, auch das alltägliche Leben, Leiden und Lieben wird thematisiert. Ennam-Aschur lag im Streit mit seinem Bruder, sein Hilfegesuch blieb unerhört. Und wie wir dank der Keilschrifttafeln wissen, endete die Geschichte auch eher tragisch. Denn Ennam-Aschur wurde nur zwei Jahre nach dem Tod seines Vaters ermordet. Wirwissen noch, dass sein Bruder eine zu der Zeit übliche Entschädigung von dem König forderte, in dessen Land Ennam-Aschur ermordet worden war. Danach verschwinden seine Spuren im Sand bzw. im Ton.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2023.