Der Spieleforscher spricht mit Ludwig Greven über die soziale Funktion von Spielen, ihre Missachtung in der Kulturpolitik und darüber, warum deutsche Brettspiele nun auf sein Betreiben für die Bundesliste des Immateriellen UNESCO-Kulturerbes vorgeschlagen wurden.

 

Ludwig Greven: Seit wann spielen Menschen?

Jens Junge: Der Mensch spielt seit jeher. Jedes Kind erkundet die Welt spielend. Nur so können wir uns entwickeln. Spielen ist ein Naturtrieb, auch bei anderen Lebewesen. Menschen haben aber ein komplexeres Gehirn. Irgendwann haben sie Materie mit Fantasie kombiniert. Sie haben etwas entwickelt, was es real nicht gibt – ein entscheidender Schritt der Kultur. Dokumentiert ist das mit dem Löwenmenschen im Stadtmuseum in Ulm, aus einem Mammutstoßzahn geschnitzt vor über 40.000 Jahren: das erste überlieferte Spielzeug. Andere würden sagen: ein Kunstobjekt.

 

Welche Funktion erfüllen Spiele, wie wir sie heute kennen?

Etwa 30.000 Jahre vor Christi haben sich die ersten Glücksspiele etabliert. Sie dienten dem sozialen Ausgleich. In Jäger- und Sammlergesellschaften wurde mit Baumrindenstücken darum gewürfelt, wer welchen Pfeil erhält. Denn wer den richtigen Pfeil besaß, konnte nach der Jagd entscheiden, wer Fleisch bekam, das entscheidende Nahrungsmittel. So wurde verhindert, dass feste Machtstrukturen entstanden. Brettspiele entstanden mit dem Sesshaftwerden. Denn da mussten Menschen integriert werden, die noch nicht fest mit der Sippe verbunden waren. Das geschah über gemeinsame Spielregeln. Gleichzeitig war das der Beginn der Religionen. Die ersten Brettspiele zeigten, wie Menschen gezwungen waren, über sich selbst hinaus zu denken und größere Gesellschaftsformen zu organisieren. Genau das ist Zweck von Religionen. Ein altes indisches Spiel, aus dem sich später Mensch-ärgere-dich-nicht entwickelt hat, stellt den Lauf des Lebens dar, mit Leid und Schicksalsschlägen und dem Endziel Nirvana: die Glückseligkeit.

 

Ist das Erlernen von Spielregeln und die Verständigung darauf sinnbildlich für das Vereinbaren und Einhalten gesellschaftlicher Regeln?

Ja, wir lernen uns anzupassen. Gleichzeitig hinterfragen wir aber auch Spielregeln. Bei starren Regeln verspüren wir den Drang, sie zu modifizieren oder sie zu verletzen, zu schummeln. Eine Funktion von Spielen ist, Grenzen auszutesten und damit auch die Emotionen der Mitspieler. Wie reagieren die? Das ist das Schöne an Spielen, dass ich lerne, mit anderen umzugehen, sie zu provozieren, ohne dass es wirklich ernst ist.

 

Man spielt gemeinsam. Gleichzeitig bedeutet es Wettkampf, es gibt Sieger und Verlierer, mitunter endet es im heftigen Streit. Dienen Spiele auch dazu, das Austragen von Konflikten zu üben?

Ja, das ist eine wichtige Funktion. Seit einigen Jahren trenden jedoch kooperative Spiele, bei denen man Probleme gemeinsam löst. Das aktuelle Spiel des Jahres ist »Dorfromantik«.

 

Ein Ausdruck gesellschaftlicher Veränderungen?

In Stellenanzeigen werden heute meist Teamplayer gesucht. Auch die wirtschaftlichen Spielregeln haben sich geändert. In kooperativen Spielen lernt man, Lösungen auszuhandeln und andere Perspektiven wertzuschätzen. Fertigkeiten, die wir in der realen Welt brauchen. Eine wichtige Kraft, die im Kulturgut Spiel steckt, ist, Menschen zu befähigen, sich variabel zu verhalten und Empathie und Verständnis für Andere zu entwickeln.

 

Sie haben gemeinsam mit anderen erreicht, dass die deutschen Brettspiele in Thüringen auf die Landesliste des Immateriellen Kulturerbes der UNESCO gesetzt und für die Bundesliste vorgeschlagen wurden. Weshalb wurden Spiele bisher nicht als Teil der Kultur angesehen?

Wenn ich sehe, mit wie vielen Milliarden Opern und Theater subventioniert werden, aber ein Spielecafé, das Menschen verschiedener Generationen und Nationalitäten zusammenbringt, bekommt nicht einmal die Gemeinnützigkeit zuerkannt! Das hat mich dazu gebracht, diesen Antrag zu stellen, damit Spiele endlich als das anerkannt werden, was sie sind: ein bedeutender Teil unserer Kultur. In Deutschland haben wir da eine große Stärke, mit Fanzines, Spieleverlagen, Spielemessen mit Hunderttausenden Besuchern und jedes Jahr Hunderten von neuen Brettspielen. Das ist einzigartig, wird aber bislang von der Kulturpolitik kaum wahrgenommen. Die Deutsche Nationalbibliothek sammelt alles, nur keine Brettspiele. Dabei arbeiten daran zahlreiche Kreative.

 

Gerade die Gaming-Szene ist ja auch ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor.

Als Basis hat sie 5.000 Jahre Brettspiel- und Regelspiel-Geschichte. Alle digitalen Spiele fußen auf die-sem Kulturgut.

 

Sie haben das erste Institut für Ludologie gegründet. Nehmen andere Wissenschaftler Sie ernst?

Wir beobachten, wie Spielen als Methode auch in andere Bereiche vordringt, etwa im Management, um komplexe Vorgänge besser aufzubereiten, ein leichteres Verständnis zu entwickeln und Emotionen zu wecken oder um langweilige Weiterbildungsveranstaltungen aufzulockern. Wir bekommen Aufträge, Gamifications zu entwickeln, damit die Leute sich etwas besser merken können. Immer mehr Menschen erkennen die Kraft des Spielens und nutzen sie.

 

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 9/2024.