Am Anfang stand ein Dissens: Der Deutsche Kulturrat hatte in seiner Stellungnahme »Zur Zukunft des Humboldt Forums« vom 12. Dezember 2022 formuliert: »Erstaunlicherweise ist das Gebäude auch nicht für Menschen mit unterschiedlichen Einschränkungen konzipiert. Das gilt für den Zugang zu den verschiedenen Orten, für die Leitsysteme und anderes mehr« und weiter ausgeführt: »Gleichfalls gilt es, am Bau mit Blick auf inklusiven Zugang nachzubessern.« Diese pointierten Aussagen sorgten für Widerspruch bei den Verantwortlichen in der Stiftung Humboldt Forum. In einem Gespräch zwischen dem Vorstand der Stiftung Humboldt Forum und dem Deutschen Kulturrat im Januar dieses Jahres wurde seitens der Stiftung Humboldt Forum mit Nachdruck darauf verwiesen, dass bereits beim Bau alles dafür getan wurde, um barrierearm zu sein, und die Aussage in der Stellungnahme nicht zuträfe.
Die Stiftung Humboldt Forum beließ es nicht beim Protest, sondern lud zur Ortbegehung ein. Im November fand das zweite Treffen der Werkstattgesprächsreihe »Kultur braucht Inklusion« statt. Die Werkstattgesprächsreihe veranstalten der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen (Behindertenbeauftragter), Jürgen Dusel, und der Deutsche Kulturrat gemeinsam. Die Veranstaltung fand in Kooperation mit der Stiftung Humboldt Forum im Humboldt Forum statt.
An der gemeinsamen Gesprächsreihe von Behindertenbeauftragtem und Deutschem Kulturrat nehmen einerseits Vertreterinnen und Vertreter von Behindertenverbänden und Selbsthilfeorganisationen teil. Sie sind teilweise Expertinnen und Experten in eigener Sache, sodass an den Gesprächen beispielsweise hörbehinderte oder taube Menschen, Blinde oder Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer oder andere Behinderte vertreten sind. Andererseits gehören dem Kreis Vertreterinnen und Vertreter aus der Mitgliedschaft des Deutschen Kulturrates an. Gemeinsam wird der Sachstand zu Inklusion im Kultur- und Medienbereich diskutiert. Dabei stehen drei Themen im Vordergrund:
- Barrierefreiheit für das Publikum,
- Zugang zur künstlerischen Ausbildung für Menschen mit Behinderungen sowie
- Zugang zum Kulturarbeitsmarkt.
Geplant ist, Ende 2024 gemeinsame Teilhabeempfehlungen vorzulegen, in denen skizziert wird, welche Handlungsbedarfe im Kulturbereich selbst bestehen, um das Menschenrecht auf Teilhabe an Kunst und Kultur zu verwirklichen. Es soll ebenso darauf eingegangen werden, was Politik und Verwaltung tun müssen, damit Menschen mit Behinderungen Kultur schaffen, als Künstlerinnen und Künstler gesehen und gehört werden sowie dass Menschen mit Behinderungen Kultureinrichtungen umfassend nutzen können, selbstverständlich wie alle anderen auch und nicht nur an Tagen mit gesonderten Angeboten.
Beim Besuch im Humboldt Forum wurde einmal mehr klar, wie heterogen die Gruppe von Menschen mit Behinderungen ist und wie unterschiedlich daher die Bedarfe sind. Beim Bau des Humboldt Forums, einem Neubau mit einer historischen Fassade an drei Seiten, bestand die Chance einer von vornherein barrierearmen Bauplanung und -umsetzung. Diesem Anliegen wird das Gebäude weitgehend gerecht. Das trifft auf Aufzüge, auf ein Leitsystem für Blinde und Sehbehinderte, einen Medienguide mit der Auswahlmöglichkeit Deutsche Gebärdensprache, behindertengerechte Toiletten, eine davon mit Liege und Dusche, und anderem mehr zu. Bereits während des Baus und vor der Eröffnung lud die Stiftung Humboldt Forum sogenannte Fokusgruppen ein, die aus eigener Anschauung die Barrierefreiheit auf den Prüfstand stellten. Das ist die bauliche Seite. Auch wenn an der einen oder anderen Stelle von den Expertinnen und Experten beim Werkstattgespräch noch Verbesserungsbedarf benannt wurde, wurde im Großen und Ganzen dem Gebäude ein gutes Zeugnis ausgestellt. Die anwesenden Vertreterinnen und Vertreter der Stiftung Humboldt Forum, namentlich der Vorstand Technik Hans-Dieter Hegner und die Geschäftsführerin der Stiftung Humboldt Forum Service GmbH, Friedrun Portele-Anyangbe, ermutigten die Mitglieder des Gesprächskreises, offene Punkte und Mängel in der Barrierefreiheit offen anzusprechen. Vieles zeigt sich tatsächlich erst in der Nutzung und ist nach wie vor im »Praxistest«.
Neben der baulichen Barrierefreiheit ging es bei dem Werkstattgespräch aber auch um den Zugang zu den Sammlungen. Die Stiftung Humboldt Forum verfügt bekanntermaßen über keine eigene Sammlung. In ihrer Verantwortung liegen unter anderem das gemeinsame Programm und die Spuren der Erinnerung im Haus, die an die wechselvolle Geschichte des Ortes erinnern. Dazu gehören beispielsweise Skulpturen der ehemaligen Fassade des Originalschlosses, Teile des Leitsystems aus dem Palast der Republik, Kunstwerke, die einst im Palast der Republik zu sehen waren, und anderes mehr. Duplikate dieser Objekte sind teils als Tastobjekte für Blinde zugänglich. Per QR-Code wird in verschiedenen Sprachen, so auch in Deutscher Gebärdensprache, informiert.
Die Teilnehmenden des Werkstattgespräches hatten zusätzlich Gelegenheit, einen Blick in die Ausstellung des Museums für Asiatische Kunst zu werfen und einen ersten, kurzen Eindruck von Maßnahmen zur Barrierefreiheit zu gewinnen. Positiv wurde aufgenommen, dass auch hier mit einem Leitsystem und teilweise vorhandenen Tastmodellen der Versuch unternommen wird, Blinden und Sehbehinderten den Museumsbesuch schmackhaft zu machen. Mitzunehmende Klappstühle sollen es älteren Menschen und Menschen mit Gehbehinderung erleichtern, an den Objekten, an denen sie verweilen wollen, länger zu verweilen. Videos werden zumindest untertitelt, auch wenn eine Übersetzung in Deutsche Gebärdensprache wünschenswert wäre.
In der nachfolgenden Diskussion wurde der Blick über das Humboldt Forum hinaus geweitet und sich mit dem Zugang von Blinden, Seh- und Lesebehinderten zu Literatur befasst, sich mit der voraussetzungsvollen Beschreibung von Objekten in Museen beschäftigt, Barrieren bei Barrierefreiheit aufgezeigt und Beratungswege zu mehr Inklusion in Kultureinrichtungen beschrieben. Anhand der vorgestellten Praxisbeispiele wurde deutlich, dass in der Kulturvermittlung und kulturellen Bildung ein Bewusstsein für die Vielfalt der Gesellschaft, zu der Behinderte in ihrer Heterogenität und unterschiedlichen Bedarfen gehören, besteht. Weniger ausgeprägt ist das Verständnis bei Kuratorinnen und Kuratoren, die insbesondere an Fachlichkeit und ihre Fachcommunity denken und weniger an Menschen, die ggf. noch gar keine Berührung mit dem behandelten Thema, Objekt oder auch Kontext hatten.
Aber auch an der Umsetzung in der Kulturvermittlung hapert es allerdings teilweise noch. Als Kernproblem wurde im Werkstattgespräch herausgearbeitet, dass Behinderte vielfach noch als »Spezialgruppe« betrachtet und behandelt werden. Oder vereinfacht gesagt: Behinderte Bibliotheksnutzerinnern und -nutzer sind nicht eine Gruppe unter vielen, sondern werden als Sonderbedarf gesehen, die exkludiert und mit einem Spezialangebot versehen werden. Ein Erzähltheater mit sprechenden und tauben Menschen werden als Spezialangebot für Taube und nicht etwa ein Angebot für alle wahrgenommen. Angebote in leichter Sprache scheinen für Menschen mit kognitiven Einschränkungen gemacht zu sein und nicht etwa für die Allgemeinheit der Nutzerinnen und Nutzer, obwohl vermutlich viele sich durch weniger voraussetzungsvolle und einen akademischen Sprachstil geprägte Erläuterungen angesprochen fühlen würden.
Die Herausforderung besteht darin, weniger in Kästchen zu denken und zu handeln, nach dem Motto hier das Angebot für die »Normalen« und dort das für Behinderte, hier die Präsentation für die Alteingesessenen und dort für die diverse Stadtgesellschaft und vieles andere mehr. Das bedeutet zugleich, zielgruppenspezifische Angebote zumindest zu hinterfragen und zu überlegen, was es heißt, ein Kulturangebot für alle bereitzuhalten, und wie können alle davon erfahren. Diese und weitere Fragestellungen werden in den nächsten beiden Werkstattgesprächen vertieft, um dann Ende des kommenden Jahres Teilhabeempfehlungen vorzulegen.
Was die Ortsbegehung der Stiftung Humboldt Forum angeht, hat sie, das ist unser Fazit, die »Nagelprobe« bestanden. Gratulation!