Das erleichterte Aufseufzen unter den Lordsiegelbewahrern der alten Suhrkamp-Kultur war unüberhörbar, als sich herausstellte, dass der Verleger Siegfried Unseld seine NSDAP-Mitgliedschaft doch nicht verschwiegen hatte. Die FAZ präsentierte Unselds Meldebogen zur Entnazifizierung vom 26. April 1946, der auch von ihm unterschrieben war. Damit bleibt nicht sehr viel übrig von jenem Vorwurf, den die Kollegen von der konkurrierenden ZEIT zu einem Fall Unseld hochzuschreiben versucht haben; und man muss kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen, wie leicht es doch war, den entsprechenden Gegenbeleg zu bekommen. Ein Blick in die Spruchkammerakten hätte genügt.
Unselds jugendliches Mitläufertum sei ein offenes Geheimnis gewesen, beeilen sich jetzt viele zu sagen, und der Verleger habe daraus nie einen Hehl gemacht. Die Biografie Unselds wird man jedenfalls kaum umschreiben müssen, und auch der mögliche Einfluss seiner gar nicht so geheimen Lebensgeschichte auf sein späteres Verlegertum wird kaum Überraschungen bringen. Unselds Parteimitgliedschaft fügt sich nahtlos in das Bild eines Landes ein, das sich nur unter größtmöglichem Schweigen aus seiner moralischen und zivilisatorischen Katastrophe herauswinden konnte. Aber wie hätte der Wiederbeginn nach dem Krieg auch anders aussehen sollen.
Wer sich jenes »kommunikative Beschweigen«, wie der Philosoph Hermann Lübbe dieses Verhalten später nannte, als heiteres Ringelreihen zwischen Milchbar und Tütenlampen vorstellt, dem die wahrheitsheroische 68er-Generation erst den Spiegel vorhalten musste, wird sich mit einem Blick in die Zeitdokumente oder Lebenserinnerungen vom Gegenteil überzeugen können. Damals stand eine körperlich und moralisch versehrte Gesellschaft sich unmittelbar selbst gegenüber.
Die Russen hatten ihre Kriegsversehrten, die ihre beinlosen Rümpfe auf Holzwägelchen durch die Straßen quälten, einst zynisch Samoware genannt. Bis sie Stalin dann rigoros aus dem Stadtbild entfernte. Nichts sollte mehr an ihr Elend erinnern. Auch in meinen Kindheitserinnerungen tauchen jene Kriegsblinden und Amputierten auf, denen die viel zu weiten Anzugshosen um die hölzernen Prothesen schlotterten. Befragt haben wir sie lange Zeit nicht.
Wer heute wissen will, welche verbitterte, aber ebenso intrigante und überlebenshungrige Stimmung hinter den mühsam hochgeziegelten Fassaden der ersten Nachkriegsjahre herrschte, muss nur die glänzend geschriebene Biografie Hans-Hermann Klares über Philipp Auerbach lesen, den prominentesten jüdischen Opfervertreter jener Jahre. Über ihn saßen ehemalige Nazijuristen zu Gericht. Damals sortierte sich, wer mit wem überhaupt noch sprechen wollte. In dieser Zeit trifft der junge Buchhandelsgehilfe und promovierte Germanist Siegfried Unseld, der aus einer überzeugten Nazi-Familie stammt, durch Vermittlung von Hermann Hesse auf den Verleger Peter Suhrkamp, dessen Nachfolger und geistiger Erbe er wird. Wer aus unserer politisch so scheinbar geordneten Gegenwart zurückblättert in jene Jahre, stößt im Lebenslauf von Suhrkamp unerwartet auf Arno Breker. Ausgerechnet Hitlers Staatsbildhauer hatte sich bei Albert Speer für Suhrkamp eingesetzt, als dieser am Ende des Krieges ins KZ Sachsenhausen eingesperrt wurde. Breker schien diese Sache so wichtig gewesen zu sein, dass er sie Jahrzehnte später in seinen Lebenserinnerungen festhielt. Deren Titel »Im Strahlungsfeld der Ereignisse« lässt freilich wenig Einsicht in jene mörderischen Machtverhältnisse erkennen, von denen Breker selbst profitierte. Man muss seinen Schilderungen auch nicht unbedingt folgen, wie schroff der von seiner Haft gezeichnete Verleger nach Kriegsende jegliche Verbindung zu dem bekannten Nazi-Bildhauer abbrach. Suhrkamp selbst hatte es in seinem Spruchkammerverfahren zumindest erwähnt. Aber diese Episode illustriert doch, wie abrupt manche Beziehungen damals abrissen. Es war die Zeit, als man die Straßenseite wechselte, um seinem alten Leben nicht mehr begegnen zu müssen. Ja, es gab die Seilschaften immer noch; und natürlich versuchten viele Zeitgenossen, schnell zu verdrängen. Es wollte eben niemand ein Etikettierter mehr sein. Stillgeschwiegen haben fast alle. So entstand der Mythos von der Stunde null. Danach, so hoffte man, konnte das Leben von neuem beginnen. Richard von Weizsäcker hat mir sein Lebensgefühl von damals beschrieben. »Wir Jüngeren«, sagte er in einem letzten Gespräch, »lebten bereits schon in einer anderen Zeit.«
Was wirft man dem jungen Unseld also vor? Dass er sein Leben nicht im Rückwärts verstehen wollte? Die drängenden Fragen an sich selbst nur im vertrauten Kreis gestellt hat? Vielleicht sollten wir etwas gnädiger sein im Umgang mit den Lebensentscheidungen von gestern.
Viel spannender wäre jetzt die Frage, warum eine solche Debatte erst heute aufkommt, mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Tod des Verlegers. Wer heute vor dem betongrauen Berliner Verlagshaus steht, wird die Patina aus Frankfurter Zeiten vermissen. Es ragt nichts mehr rüber aus jenem geistigen Neubeginn. Auch die alte Westrepublik ist heute Geschichte und wir betrachten ihre Hinterlassenschaft mit großem Erstaunen. Die Theorien der Suhrkamp-Kultur liegen inzwischen da wie die Knochen aus Saurierzeiten. Was uns wirklich besorgen müsste, ist nicht Unselds frühe Parteimitgliedschaft, sondern die Frage, was von der alten Suhrkamp-Kultur tatsächlich übriggeblieben ist, die unser geistiges Leben so lange bestimmt hat. Zwar begann der Exodus der Jungen, der Eigenwilligen dort schon vor Jahren. Aber wir lassen unsere geistigen Fundamente wieder einmal zurück und haben noch längst keine neuen.