Jeder feiert Weihnachten heute auf seine Weise. Zumindest verbindet sich dieses Fest, das eigentlich die ganze Christenheit bedeutet, mit bestimmten Erinnerungen, Orten oder Ereignissen. Für mich beginnt Weihnachten jedes Jahr mit dem Louis Lewandowski Festival in Berlin, das immer in den späten Dezembertagen zu Ehren dieses großen jüdischen Komponisten und Reformators der Synagogalmusik stattfindet. Es ist vor vielen Jahren aus einer noblen bürgergesellschaftlichen Idee heraus entstanden und wird jedes Mal – wenn auch nur für wenige Tage – zu einem außergewöhnlichen Ort der Eintracht und des Friedens.

Die Wirklichkeit auf den Berliner Straßen sieht freilich anders aus. Fast jeden Tag wird an irgendeiner Stelle gegen Israel demonstriert, und natürlich schwingt der Resonanzraum unserer furchtbaren Vergangenheit dabei mit. Es ist ein tückisches Amalgam entstanden zwischen der Anteilnahme am Schicksal der Kriegsopfer im Gazastreifen und jenem Globalvorwurf, der nur so tut, als ob er zwischen der aktuellen Politik Israels und der Anklage gegen das jüdische Volk unterscheiden wolle.

Vielleicht haben wir uns all die Jahrzehnte getäuscht, in denen wir glaubten, dass solche Parolen kein Echo mehr finden werden in unserem Land. Noch vor Jahren wäre mir unvorstellbar gewesen, welche Ideologien sich wieder an den Universitäten verbreiten können. Wenigstens dort schien mir der Geist der Aufklärung noch resistent. Was für ein Irrtum.

Ich stehe im einst so weltoffenen Berliner Stadtteil Kreuzberg inmitten einer der vielen propalästinensischen Demonstrationen, die keinen Zweifel daran lassen, um wessen Existenzrecht es ihnen geht. Am Rand sehe ich eine kleine Gruppe von Gegendemonstranten, die kaum vernehmbar ihre Stimme für Israel erheben. Die Gegenseite ist sehr viel lauter und mich erschreckt, wie offensichtlich sich die politischen Räume bereits wieder verschoben haben. Durch unser Land schwappt eine neue Welle von Antisemitismus. Er begnügt sich nicht mehr mit den verstohlenen Ressentiments früherer Jahre; es wird inzwischen lauthals skandiert. Und die deutsche Öffentlichkeit schaut mehr oder minder hilflos dabei zu. Obwohl es ihr nicht an Instrumenten fehlte, diesem Treiben ein Ende zu setzen. Was sie so ohnmächtig wirken lässt, ist ihre Weigerung zu benennen, worum es in Wirklichkeit geht. Auch herrscht eine große Sprachverwirrung in unserem Land, und sie zeigt ihre postkolonialen Züge. Die alten Ordnungen sind brüchig geworden, die gewohnten Kennzeichnungen gelten nicht mehr. und die vormals richtigen Konsequenzen aus unserer Vergangenheit werden mitunter zu falschen. Der Historiker und Publizist Michael Wolffsohn hat von historischer Ironie gesprochen, dass Juden wie Deutsche zwar ihre eigenen Lehren aus ihrer Geschichte gezogen hätten, sie aber sich gerade deshalb nicht mehr verstünden. Die einen wollen nie wieder Täter sein, die anderen nie wieder Opfer.

Aber das hat womöglich zu einem großen Missverständnis geführt, mit welchem alten, aber eben auch neuen Antisemitismus wir es in unserem Land inzwischen zu tun bekommen. Denn natürlich wurde dieser neue Antisemitismus in beträchtlichen Teilen aus der islamischen Welt importiert. Auch wenn einige Historiker gerade versuchen, selbst diese islamische Judenfeindlichkeit in die deutsche Geschichte einzugemeinden. Die Migration zeigt vielmehr hier ihr Janusgesicht. Die Globalisierung unserer Lebensverhältnisse ist leider nicht ohne solche Schattenseiten zu haben. Wir importieren eben nicht nur Arbeitskräfte und Funktionsträger, sondern Menschen, mit ihrer jeweils eigenen Prägung und Herkunft. Die streifen sie an den Grenzen nicht einfach ab wie ein altes, nicht mehr gebrauchtes Kostüm. Doch solche Eingeständnisse passen uns nicht. Genauso wie die Kriminalstatistiken die Herkunft der Täter und ihre Lebensgeschichten lange nicht ausweisen wollten, will man über das mitunter hochheikle Erbe derer, die zu uns kommen, nicht offen reden. Viele der neuen Israelfeinde in unserem Land hatten den Judenhass in ihrem Reisegepäck, sie mussten ihn bei uns nicht erst lernen.

Wie aber will eine in solchen Fragen blind gewordene Gesellschaft mit diesem Thema umgehen? Man konnte die ganze Hilflosigkeit erst jüngst wieder an einer der Berliner Problemschulen erleben, in denen eine ratlose Lehrerschaft vor ihren randalierenden Schülern kapituliert. Aus einem halben Hundert verschiedenster Herkunftsländer sind deren Familien gekommen. Eine Grundverständigung über die Werte und Normen unserer Gesellschaft gibt es dort offenbar nicht. Der frühere, zweifellos tüchtige Leiter dieser Schule spricht von Regeln, die man den Schülern wieder beibringen müsse. Er übersieht, dass sie ihre eigenen Regeln längst mitgebracht haben.

Die unvermeidlichen politischen und kulturellen Klärungsprozesse aber, die ein Einwanderungsland braucht, werden noch durch ein Meinungsklima erschwert, in dem man sich nicht mehr zu differenzieren traut. Und in dem man nicht klar und offen benennt. Es gibt diese islamisch geprägte Feindschaft gegen Israel und die jüdische Welt mittlerweile in unserem Land, und wir leisten uns einen Bärendienst, diese Gefahr im pauschalen Vorwurf des Antisemitismus zu verwischen. Hinter dem postkolonialen Jargon intersektionaler Diskriminierung, wie einer dieser neuen Termini heißt, wird eine kollektive Opfer- und Täterideologie aufgebaut, in der alle gebotenen Unterscheidungen verschwimmen. Wir entlasten unser Gewissen freilich keineswegs, indem wir Schuld und Verantwortung in die islamische Welt exportieren. Aber Zuwanderung in unsere Gesellschaft kann auch nicht bedeuten, unser – weiß Gott – mühsam erworbenes heutiges Selbstverständnis an eine x-beliebige Welt zu verlieren. Louis Lewandowski wurde als Jude in der ehedem preußischen Provinz Posen geboren. Seine Lebensgeschichte gehörte zu unserem Land. Wir dürfen nicht im Mindesten dulden, dass eine postmigrantische Gesellschaft jüdisches Leben in Deutschland wieder infrage zu stellen beginnt.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2024-1/2025