Neulich in Berlin, auf dem Weg in die frühere Wissmannstraße im Stadtteil Neukölln. Man hat sie inzwischen umbenannt in Lucy-Lameck-Straße, nach einer tansanischen Politikerin und der ersten Frau im Parlament ihres Landes. Aber muss man die Namensgeberin kennen? Der zuständige Bezirksbürgermeister Hiekel meint nein. Denn Lucy Lambeck habe den Berliner Stadtteil Neukölln ja wohl auch nicht gekannt. Es gehe vielmehr um die »symbolische« Wiedergutmachung der deutschen Kolonialverbrechen. Da musste der Kolonialpionier Hermann Wissmann verständlicherweise weichen, der eine Blutspur durch Afrika zog.
Auch die frühere Mohrenstraße in Berlins Mitte heißt jetzt Anton-Wilhelm-Amo-Straße, ein Name, den das kundige Deutschland inzwischen wohl kennt. Aber auch bei ihm, dem im Deutschland der Aufklärung erzogenen afrikanischen Philosophen, stellt sich die Frage, ob die Berufung auf ihn geeignet ist, jene Wunden zu heilen, die der deutsche Kolonialismus geschlagen hat. Zweifel daran säte unlängst der Kolonialhistoriker Michael Zeuske, der neue Quellen präsentierte und am wohlfeilen Bild Amos rüttelt, dass dieser nach Deutschland verschleppt wurde, aber trotzdem eine außerordentliche Karriere machte: vom namenlosen Opfer zum bekannten Philosophen seiner Zeit.
Vieles, was wir über Amo zu wissen glauben, wirkt historisch nachkoloriert. Auch die wundersame Geschichte vom afrikanischen Sklavenkind, das in der Fremde zur Geistesgröße der deutschen Aufklärung heranwächst, ist viel zu schön, als dass man sie von einer unangemessenen Hermeneutik des Verdachts entzaubern lassen wollte. Dekonstruieren wir doch lieber woanders.
Höchstwahrscheinlich entstammte Amo der Oberschicht seines Landes und kam, was gängige Praxis war, zur Absicherung eines Handelskontrakts mit nach Deutschland, war also Teil jener ausgeprägten Wirtschaftsbeziehungen zwischen Afrika und Europa, zu deren selbstverständlichem Teil auch der Sklavenhandel gehörte. Was aber, um den aberwitzigen Bogen zur Berliner Kommunalpolitik wieder zu schlagen, eine Straßenbenennung nach Anton Wilhelm Amo nahezu unmöglich macht.
Eine solche Korrektur wäre allerdings in doppelter Hinsicht fatal. Den Kritikern der Umbenennung lieferte das den Beweis, wie fahrlässig mit historischen Fakten umgegangen wird. Wohingegen die Protagonisten der Namensänderung sich ihres wundersamen Narrativs verlustig erklären müssten, das da hieße: Gesellschaftliche Anerkennung gelingt, selbst wenn man als Opfer nach Deutschland kommt.
Im Grunde hätte darüber sogar ein kleiner Historikerstreit entbrennen müssen. Aber die Neigung scheint offenbar gering, deswegen noch einmal in die postkolonialen Schützengräben zu steigen. Dabei würde es sich am Beispiel Amos allemal lohnen, einer ernsthaften Betrachtung neuen Raum zu geben. Denn plötzlich melden sich auch jene Historiker und Historikerinnen zu Wort, die in den letzten Jahren still und beharrlich an einem realistischeren Bild Amos und der kolonialen Verflechtungsgeschichte gearbeitet haben.
Aber man soll den Tag eben nicht vor dem Abend loben. Ausgerechnet einer der renommiertesten deutschen Afrikahistoriker, der in Berlin an der Humboldt Universität lehrende Andreas Eckart, musste im Leib- und Magenblatt des deutschen Bildungsbürgertums, der Hamburger ZEIT, das Thema postwendend wieder unter Ideologieverdacht stellen. Die mühsam erkämpfte kritische Sichtweise auf das koloniale Erbe sei in Gefahr, gab er zu Protokoll. Was, mit Verlaub, Kokolores ist. Denn es findet nirgendwo ein ideologisches Rollback statt. Es öffnet sich vielmehr ein Spalt für einen sachlicheren Umgang mit der deutschen und der europäischen Kolonialgeschichte, wie er in den Hochzeiten des wogenden Postkolonialismus kaum denkbar gewesen wäre.
Man muss kein Kenner der historischen Semantik Reinhart Kosellecks sein, um doch zumindest für möglich zu halten, dass die Verhältnisse im 18. Jahrhundert anderen Mustern folgten, als wir sie aus den Zeiten der kolonialen Überwältigung kennen. Die afrikanischen Reichen standen den europäischen Kolonialmächten, mit denen sie einen florierenden Sklavenhandel betrieben, damals nicht nach. Und nur am Rande sei erwähnt, dass es afrikanische Herrscher gab, die sogar davon träumten, die europäische Welt im Gegenzug zu erkunden.
Aber was für die Betrachtung von Amo viel wichtiger erscheint, ist der Umstand, dass ein gebildeter und standesgemäß erzogener Afrikaner im Europa des 18. Jahrhunderts kein kurioser Einzelfall war. So finden sich unter den fremden Besuchern Europas eben nicht nur jene Exoten, die das Interesse der wissenschaftlichen Schädelvermesser oder die populäre Schaulust auf Jahrmärkten weckten, sondern auch solche, die später preußische Staatsräte, französische Offiziere, Londoner Gesellschaftsgrößen oder Priester der Church of England wurden.
Vor den beiden Tahitianern Aotourou und Omai, die James Cook mit nach Europa brachte, defilierte, um ein Beispiel zu nennen, die Crème der damaligen gelehrten Welt. Was der Aufklärer Denis Diderot 1772 im Nachgang zu den Entdeckungsreisen des berühmten Louis-Antoine de Bougainville als selbstverständlichen Akt des kulturellen Übertritts beschrieb: »Man ziehe den Rock des Landes an, das man besucht, und bewahre den Rock des Landes auf, aus dem man stammt.« Erst später senkten sich dann die Schranken des modernen Rassismus zwischen die verschiedenen Kulturen, was eine solche kulturelle Konversion nahezu undenkbar machte.
Zu den Auswirkungen der heutigen postkolonialen Hybris gehört sowohl, dass sie uns den freien Blick auf die eigene Geschichte verwehrt. Aber mindestens genauso: dass sie unsere Fenster zur Welt vermauert hat. Die reine Binnensicht aber droht trübe zu werden.
Wir träumen immer noch vor uns hin den exotischen Traum von den früheren, den unbescholtenen Gefilden; und wir verkennen dabei, dass es eine gesellschaftliche Moderne auch jenseits unserer europäischen Horizontlinie gab. Man wird die Gräuel des Kolonialismus nicht relativieren, nur um einzusehen, dass es in der Geschichte der europäischen Welteroberung nie nur Täter und Opfer gab. Für diese Erkenntnis lohnt es, des in Deutschland erzogenen afrikanischen Philosophen Anton Wilhelm Amo zu gedenken. Er hat vorgelebt, wie man kulturelle Sichtweisen wechselt und sich fremde Perspektiven zu eigen macht. Wir Heutigen könnten immer noch von ihm lernen.