Jürgen Kocka beschreibt in seinem Buch »Kampf um die Moderne. Das lange 19. Jahrhundert in Deutschland«, dass die Industrialisierung und die damit einhergehende Modernisierung vor allem auch ein kultureller Wandel war. Die technischen Erfindungen, die sukzessiven Marktöffnungen und die Bildung von Zollvereinen, um den Handel zu beflügeln, sind nur einige Elemente der erfolgreichen Industrialisierung während des 19. Jahrhunderts. Sie wäre nicht möglich gewesen ohne den wissenschaftlichen Fortschritt und die kulturellen Veränderungen. Verbürgerlichung, Bedeutungsgewinn von Kultur und Wissenschaft, Bildung von Vereinen und Genossenschaften – generell die Entstehung einer Zivilgesellschaft – sind nur einige wenige Stichworte dieses kulturellen Wandels. Ebenso gehören dazu die Stadttheater, die Museen, die Kunstvereine sowie generell die Entstehung einer kulturellen Öffentlichkeit.

Das lange 19. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Verwerfungen. Beginnend mit der Französischen Revolution und endend mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 umspannt es die Lebensspanne mehrerer Generationen. Es ist eine Zeitspanne mit tiefen Umbrüchen, großer wirtschaftlicher Not und ökonomischen Höhenflügen. Es ist Phase erheblicher Wanderungsbewegungen. Lebten auf dem Gebiet des Deutschen Reiches im Jahr 1780 21 Millionen Menschen und damit 38 Personen pro km², waren es 1914 67,7 Millionen Menschen mit einer Bevölkerungsdichte von 123 Menschen pro km². Die starke wirtschaftliche Entwicklung gepaart mit medizinischem Fortschritt, insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, trugen das Ihrige zu dem Bevölkerungswachstum bei. Ohne die großen Auswanderungswellen 1850-1854, 1865-1869 sowie 1880-1884 in Sonderheit nach Nordamerika wäre das Elend deutlich größer gewesen. Kocka spricht davon, dass zwischen 1820 und 1890 rund 10 Prozent der Bevölkerung aus dem Gebiet des Deutschen Reiches ausgewandert sind. Neben der Auswanderung fand zwischen 1870 und 1914 eine immense Binnenwanderung statt. In diesem Zeitraum hat jeder zweite Deutsche (32 Millionen Menschen) an der Binnenwanderung teilgenommen, bei rund der Hälfte davon, also 15 bis 16 Millionen Menschen, war die Binnenwanderung eine Fernwanderung. Sie waren »Wirtschaftsflüchtlinge« aus den östlichen Reichsgebieten und wanderten in die wirtschaftlich florierenden Industrieregionen, wie z. B. Berlin oder das Ruhrgebiet.

Das lange 19. Jahrhundert vor allem mit dem sprichwörtlichen Biedermeier in Verbindung zu bringen, ist ein Trugschluss. Es ist oft gerade die Literatur und bildende Kunst der Romantik, in der versucht wird, eine Zeit festzuhalten, die es so nicht mehr gab. Die Literatur des bürgerlichen Realismus ist, was aufmerksamen Leserinnen und Lesern kaum entgeht, durchzogen vom Schmerz der Veränderung, dem Staunen und der Unbegreiflichkeit der neuen schnellen industriellen Welt. Im Naturalismus werden die Verwerfungen auf der Bühne, in den Romanen und Bildern schonungslos thematisiert.

Die Industrialisierung war und ist allen Brüchen zum Trotz mit einem Wohlstandsversprechen verbunden, was insbesondere für die sogenannten westlichen Industrienationen gilt. Der Wohlstand für breite Schichten der Bevölkerung ist in den Jahrzehnten seit der Industrialisierung ebenso gewachsen wie der Zugang zu Bildung, zu Medizin, zu Wohnraum usw. Industrialisierung war verbunden mit einem massiven Raubbau an der Kultur. Selbstverständlich hat der Mensch auch in früheren Jahrhunderten in die Natur eingegriffen und aus der Natur- eine Kulturlandschaft gemacht. Dies sei kurz skizziert: Bis zum Ende der Völkerwanderung war Mitteleuropa im Gegensatz zum Mittelmeerraum von den zerstörerischen Aktivitäten des Menschen weitgehend verschont geblieben. Dann fand aber durch mehrere Rodungsphasen eine erhebliche Veränderung der Landschaft statt. Darüber hinaus war Holz im Mittelalter die zentrale Ressource mit vielseitigen Verwendungen als wichtigster Baustoff, Werkstoff und Energieträger. Vor allem die Erz- und Salzgewinnung hatte wegen des hohen Energiebedarfs einen unstillbaren Holzbedarf, da Holz bzw. Holzkohle die einzige relevante Energiequelle war. Zusammen mit vor allem den landwirtschaftlichen Praktiken der Streunutzung und der Weidewirtschaft führte dies häufig zur Übernutzung der Wälder. In diesem Kontext wurde in der Forstwirtschaft das Prinzip der Nachhaltigkeit geprägt. Der Begriff und das Konzept tauchen erstmals 1713 in der Schrift »Sylvicultura oeconomica« des sächsischen Oberberghauptmanns Hans Carl von Carlowitz auf – als eine Reaktion auf die Holzknappheit aufgrund des Raubbaus am Wald: »Wird derhalben die größte Kunst/Wissenschaft/Fleiß und Einrichtung hiesiger Lande darinnen beruhen/wie eine sothane Conservation und Anbau des Holtzes anzustellen/daß es eine continu ierliche beständige und nachhaltende Nutzung gebe/weiln es eine unentberliche Sache ist/ohne welche das Land in seinem Esse (im Sinne von Wesen, Dasein, Anm. d. Verf.) nicht bleiben mag«. Lange Zeit wurde Nachhaltigkeit vor allem als Mengennachhaltigkeit verstanden, also nicht mehr Holz zu nutzen, als nachwächst. Beginnend im 19. Jahrhundert, aber vor allem im 20. Jahrhundert, wurde im Bereich der Forstwirtschaft das Konzept der Nachhaltigkeit nicht nur auf die Holzbereitstellung, sondern auch auf die weiteren Waldfunktionen, wie z. B. klimatische Wirkung, Wasserhaushalt, Boden- und Artenschutz sowie Erholung, angewendet.

Spätestens mit der sogenannten Ölkrise 1973, also einem massiven Anstieg der Ölpreise durch die Preispolitik der erdölexportierenden Länder, wurde fassbar, wie eng Ressourcenverbrauch und Wirtschaftswachstum zusammenhingen. In Westdeutschland wurde zum Energiesparen aufgefordert und autofreie Sonntage eingeführt. Die wirtschaftliche Rezession und insbesondere der Strukturwandel, der besonders die in den 1950er Jahren in Westdeutschland prosperierenden Montanregionen betraf, trugen mit dazu bei, dass das Prinzip des Ressourcenraubbaus infrage gestellt wurde.

1987 erschien von der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der sogenannte »Brundtland-Bericht«, der das Konzept der Nachhaltigkeit in einem holistischen Ansatz auf alle Umweltbereiche ausdehnte und eine nachhaltige Entwicklung definierte als »eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können«. Nach dem Brundtland-Bericht sollte die Zielsetzung sein, dass Umweltschutz und Wirtschaftswachstum gemeinsam möglich sind. Infolge des Berichts entwickelte sich eine globale Diskussion und Kompromisssuche.

Der Brundtland-Bericht sollte in internationales Handeln umgesetzt werden. Dafür wurde vom 3. bis 14. Juni 1992 die Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung, als Rio-Konferenz oder Erdgipfel bekannt, in Rio de Janeiro einberufen. Sie gilt als Meilenstein für die Integration von Umwelt- und Entwicklungsbestrebungen und für die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Organisationen an internationalen Prozessen. Die wichtigsten Ergebnisse der Konferenz waren: die Deklaration über Umwelt und Entwicklung, die Klimarahmenkonvention, die Biodiversitäts-Konvention, die Walddeklaration und die Agenda 21. Als Nachfolgekonferenzen fanden 1997 die Konferenz Rio+5 in New York, 2002 der Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg (Rio+10) und 2012 die Konferenz der Vereinten Nationen über nachhaltige Entwicklung in Brasilien statt (Rio+20). Auf dieser letzten Konferenz Rio+20 wäre angesichts der realen Situation mit zunehmenden Treibhausgasemissionen, fortschreitendem Artensterben und steigendem Ressourcenverbrauch ein entschlossenes Handeln mit konkreten Zielen notwendig gewesen. Aber die 190 an der Konferenz teilnehmenden Staaten haben sich nur auf einen von Brasilien vorgelegten Minimalkonsens geeinigt, der in den zentralen Bereichen nur das festschreibt, was früher schon einmal beschlossen wurde. Die Konferenz ist im Verhältnis zu ihren Ansprüchen gescheitert. Offensichtlich war die Weltpolitikgemeinschaft nicht zum Handeln bereit.

Dennoch gibt es Ansätze, die Hoffnung aufkeimen lassen. Insbesondere könnte das Jahr 2015 als das Jahr der entscheidenden Wende in die Geschichte eingehen, denn in diesem Jahr wurden wegweisende Beschlüsse für das Klima und die globale Gerechtigkeit gefasst: Auf dem G7-Gipfel in Deutschland gab es ein klares Bekenntnis zum Klimaschutz. Die Vereinten Nationen haben in New York die 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung – Englisch: Sustainable Development Goals, kurz: SDGs – beschlossen, die der Sicherung einer nachhaltigen Entwicklung dienen und soziale, existenzielle (Hunger und Armut) und ökologische Fragen miteinander verknüpfen. Im Unterschied zu den Vorgängern, den Millenniums-Entwicklungszielen, die insbesondere Entwicklungsländern galten, gelten die SDGs nun für alle Staaten. Und schließlich wurden im Weltklimavertrag von Paris von 2015 eine Dekarbonisierung und eine Begrenzung des Klimawandels auf »deutlich unter 2° C« beschlossen. Dies war ein großer Erfolg, den vor der Konferenz niemand erwartet hatte, auch wenn die Umsetzung in den folgenden Jahren zu schleppend voranging und es an ausreichend ernsthaften Klimaschutzmaßnahmen der Nationalstaaten einschließlich Deutschlands mangelt. Und schließlich richtete Papst Franziskus 2015 in diese Situation hinein mit der Umweltenzyklika »Laudato si – Über die Sorge für das gemeinsame Haus« einen umfassenden Appell an die Welt, sie zu schützen und zu bewahren, um globale Gerechtigkeit zu schaffen.

Wo stehen wir heute?

Im Jahr 2023 stehen wir in der Mitte des Zeitraums, der in der Agenda 2030 in den Blick genommen wurde. Etwas über sieben Jahre sind seit der Verabschiedung durch die Weltgemeinschaft vergangen und etwas über sieben Jahre liegen bis 2030 noch vor uns. Angesichts dieses Zeitrahmens und der Ziele, die auf europäischer und nationaler Ebene gesetzt werden, verwundert einerseits nicht, dass die Wut und Ungeduld wachsen, wann endlich mit dem Handeln begonnen wird, und andererseits die Sorge und Ablehnung zunehmen, welche »Zumutungen« auf die Bürgerinnen und Bürger zukommen.

Nachhaltige Entwicklung bedeutet nichts anderes als der Abschied vom Wachstumsparadigma. Nicht »mehr«, »schöner«, »besser« kann die Devise sein, sondern »weniger« muss das neue Wachstumsparadigma werden. Dieses ist ein kultureller Umbruch wie er in seiner Wirkmächtigkeit mit den Veränderungen des 19. Jahrhunderts verglichen werden kann. Das Schwierige für alle diejenigen, die in dem Prozess stecken, ist, die Dimension als Ganze zu begreifen und den großen Bogen tatsächlich zu verstehen.

Nachhaltige Entwicklung ist eine immense ökologische, ökonomische, soziale und kulturelle Herausforderung. Die verbleibende Zeit, um die Klimaziele zu erreichen, wird immer knapper. Klimaforscherinnen und -forscher warnen vor Kipppunkten, die einmal erreicht, eine Entwicklung in Gang setzen werden, die unumkehrbar sein wird. Ähnlich einer Lawine, bei der es nur des letzten kleinen Anstoßes bedarf, damit sie sich unaufhaltbar ins Tal ergießt, sind es Kipppunkte, nach deren Erreichen unaufhaltsam beispielsweise die Meeresspiegel steigen, das Klima sich weltweit ändern wird. Allein diese Entwicklung zu begreifen, ist schwer genug. Alle 17 Nachhaltigkeitsziele in den Blick zu nehmen und zu verstehen, wie eng sie miteinander verbunden sind bzw. sich aufeinander beziehen, ist eine weitere Herausforderung.

Das Thema Nachhaltigkeit muss kulturell bearbeitet werden. Wenn uns dies gelingt, wird nicht mehr der Verzicht als Erstes stehen, sondern der Gewinn. Der ökonomische Gewinn, denn nachhaltiges Wirtschaften ist längst ein Markt und Wirtschaftsfaktor. Der ökologische Gewinn, denn der Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen ist essenziell für unser Überleben. Der soziale Gewinn, denn eine nachhaltige Gesellschaft orientiert sich am Gemeinwohl. Der gesellschaftliche Gewinn, denn in einer Welt zu leben, in der Natur und Kultur dauerhaft miteinander auskommen, ist die Voraussetzung für ein gutes Leben.

In diesem Band werden die 17 Nachhaltigkeitsziele der UN-Agenda 2030 durchdekliniert. Mit jedem Nachhaltigkeitsziel wird sich in mindestens einem Beitrag auseinandergesetzt. Einige Nachhaltigkeitsziele werden aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Alle Beiträge unterstreichen, dass Nachhaltigkeit einen kulturellen Wandel bedeutet. Es geht um nicht weniger als um die Art, wie wir arbeiten, konsumieren, leben, lernen, miteinander umgehen, welche Chancen alle Menschen auf der Erde haben, wie soziale Ungleichheiten beseitigt werden können und vor allem, welche Wechselwirkungen es zwischen Kultur, Sozialem, Ökologie und Ökonomie gibt und wie sie aufeinander verwiesen sind. Wir sind fest davon überzeugt: Nachhaltige Entwicklung wird nur durch einen kulturellen Wandel gelingen. Und wir hoffen, dass, wenn in hundert Jahren Bücher über den Nachhaltigkeitspfad, der in den 2020er Jahren unwiderruflich beschritten werden muss, geschrieben werden, herausgearbeitet wird, wie durch die Zusammenarbeit der verschiedenen Bereiche nachhaltige Entwicklung tatsächlich gelingen konnte.

Dieser Text ist ein Vorababdruck aus dem Sammelband »Ohne Kultur keine Nachhaltigkeit«, der am 11. Juli 2023 erscheint. Mehr dazu: kulturrat.de/publikationen/ohne-kultur-keine-nachhaltigkeit/

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 7-8/2023.