Bisher bremsten Politik und Sport die Grassroots-E-Sport-Entwicklung in Deutschland. Dabei steigt die Anzahl der E-Sport-Anhängerinnen und -Anhänger auf voraussichtlich 640 Millionen im Jahr 2025. Die gamescom 2023 verzeichnete 320.000 Besucherinnen und Besucher – 50 Prozent Deutsche. 58 Prozent der 6- bis 69-Jährigen spielen games. In Europa schauen sich zurzeit 92 Millionen Menschen von 11 bis 50 Jahren E-Sport an. 60 Prozent aller Deutschen wissen, was E-Sport ist oder haben davon gehört. Deutschland gilt nach wie vor als der Markt mit der größten Konzentration an E-Sport-Entwicklungsmöglichkeiten. Haben das unsere Politiker noch nicht voll begriffen? Im Vergleich zu anderen EU-Ländern liegen wir im Umgang mit E-Sport im hinteren Drittel genauso wie mit unserer Digitalisierung. Skandinavische Länder und das Baltikum sind uns weit voraus – von USA und Asien ganz zu schweigen. Das Achselzucken der Politik nehmen viele tatenlos hin.
Ganz anders reagieren die digital Aufgeschlossenen in unserer Gesellschaft – die 10- bis 50-Jährigen, die digitale Spiele spielen, wobei E-Sport sich als treibende Kraft erwiesen hat. »LOL: laugh out loud« und »Wir wollen spielen!« schallt es bis in die Führungsetagen von E-Sport-Gegnern, die etwa vor Kommerzialisierung oder wissenschaftlich nicht immer fundierten Gefahren warnen. Noch nie in der Geschichte der Menschheit hat es eine solche Völker- und Erdteile übergreifende Spielbewegung, hauptsächlich von jungen Menschen befördert, gegeben. In gerade einmal 20 Jahren hat sich eine gigantische E-Sport-Industrie entwickelt, die als soziologisch-kulturelles Phänomen die Digitalisierung und Globalisierung verstärkt. Menschen können mit und gegen jeden in dieser Welt spielen. Das Internet macht es weitgehend barrierefrei möglich. Neue soziale Netzwerke zwischen Spielgemeinschaften in »Physical Spaces« entstehen mit teilweise neuen Regeln außerhalb eingefahrener Strukturen, um die sie von den etablierten Medien beneidet werden. Streamingdienste und -portale werden genutzt. In Südkorea können E-Sport-Interessierte täglich acht bis neun Stunden E-Sport sogar im Fernsehen verfolgen.
Die jugendgeprägte Spielkultur hat bisherige regional und lokal geprägte Denkweisen und Handlungen erweitert und um neue Ansätze bereichert. Sie trägt evolutionäre Spielzüge: »In der Evolution hat Spiel die Funktion: Zuwachs an Befähigung. Spiel oder die neuralen Funktionen und Kontrollmechanismen, die Spiele hervorbringen, werden immer dann aktiviert, wenn etwas auftaucht, das sich nicht auf etwas anderes zurückführen lässt. Die Spezies Mensch kann spielend erfahren, damit umgehen und antworten«, so schreibt der Autor schon 2003 in »Computerspiele sind Kultur«.
Immerhin wird das wirtschaftliche Potenzial von E-Sport erkannt und die Games-Produktion gefördert. Die Spielmöglichkeiten der Basis aber werden ausgebremst von der bundesdeutschen Politik mit der Geißel der Nichtzuerkennung von Gemeinnützigkeit, die dem E-Sport gesellschaftlich helfen würde. Die Gemeinnützigkeit liegt in der Gesetzgeberkompetenz des Bundes, vor allem beim aktuell von der FDP geführten Finanzministerium. Bündnis 90/Die Grünen sind generell für Games und E-Sport im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz zuständig. Restriktiv wirkt auch die Haltung des Sports, dessen Gremien auf »Regelhoheit« bestehen, die beim E-Sport bei den Publishern und Entwicklungsstudios liegt. In einigen Ländern gibt es diese Problematik nicht. Immerhin haben jetzt Experten der deutschen E-Sport-Szene eine »Vision für den E-Sport in Deutschland 2030« zur Diskussion gestellt.
Die unterschiedliche E-Sport-Entwicklung in Europa hat längst die EU als Mitspieler auf den Plan gerufen. Bereits am 8. November 2021 wurde im Europäischen Parlament eine Debatte über die Zukunft von E-Sport gefordert.
Für das Erstellen einer Studie beauftragte der zuständige Ausschuss für Kultur und Bildung (CULT) des Europäischen Parlaments Tobias M. Scholz und Nepomuk Nothelfer. Die Ausarbeitung wurde angenommen und im Mai 2022 veröffentlicht. Gelobt wurde, dass sämtliche kulturellen und gesellschaftlichen Nutzungsmöglichkeiten beleuchtet und regulatorisches Handeln verlangt wurden.
In der Folge stimmte die EU dem Projektantrag »European Grassroots Esports« zu, der von Dänemark, Norwegen, Ungarn, den Niederlanden und Deutschland eingebracht war. Ziel ist die Förderung der sportlichen Werte Gesundheit, Integration, Respekt und Verantwortung durch die Entwicklung und Verbreitung von E-Sport-Basisclubs als Konzept und Modell in ganz Europa. Beauftragt ist federführend die International Sport and Culture Association (ISCA) sowie DGI, Viken Sport Region, Hungarian Esport Federation, H2O Esports Campus und play-eS-HanseSPIEL e. V. Hamburg.
Zur aktuellen Diskussion: E-Sport ist Breitensport! – sind alle eingeladen! Die EU-Arbeitsgemeinschaft »European Grassroots Esports« hat als Anregung einen Interviewfragebogen erarbeitet, der allen E-Sport-Beteiligten in Deutschland gerne von play-eS zugeleitet wird.
play-eS greift auf 15 Jahre Erfahrung mit der »Deutschen Games Schulmeisterschaft«, der ersten deutschen E-Sport-Amateurmeisterschaft gestartet in 2006, und eigenen regionalen Schulmeisterschaften zurück. Über 2.200 Schulen haben teilgenommen, wobei die Schüler allen Freiraum hatten, das Turnier selbst durchzuführen und Programm sowie Begleitaktionen zu gestalten. »Spiel ist Kultur!« und damit gemeinnützig – das kann auch Sportvereinen und Jugendklubs für alle E-Sport-Aktivitäten in Kooperation angeboten werden, oder sie nutzen selbst diese Argumentation, wie z. B. der SC Edermünde e. V. 2021. E-Sport-Uni-Ligen und E-Sport-Betriebssport-Wettkämpfe gibt es bereits. Stiftungen und freie Organisationen bis hin zu Altenpflegeheimen zeigen Interesse an E-Sport, und in jeder Schule ist E-Sport ein Thema. Es wäre zu hoffen, dass es dem E-Sport ähnlich ergeht wie dem Fußball um 1900 in Deutschland, der durch die Aufnahme in den Schulunterricht wirklich populär wurde. Sehr schnell wurde dabei klar: Die Schulhöfe reichen nicht, und so wurden Fußballplätze gebaut. Das ist es, woran es dem E-Sport in Deutschland vor allem mangelt: Spielmöglichkeiten. Viele Sportvereine gehen mit gutem Engagement voran, aus berechtigtem Eigeninteresse Mitglieder zu werben, aber auch den Bedürfnissen der eingetragenen Mitglieder entgegenzukommen. Länder wie Schleswig-Holstein haben öffentliche E-Sport-Einrichtungen mit Betreuung eingerichtet. Die Bedeutung fürs Image haben Sponsoren und Investoren längst erkannt, und so kommt es auch zu neuartigen Konstruktionen wie z. B. der Zusammenarbeit von Telekom und SK-Gaming in Köln, die ein E-Sport-Zentrum errichten. Diese Beispiele stehen stellvertretend für viele neue Projekte. Das äußere Erscheinungsbild von E-Sport wird vor allem durch Großveranstaltungen wie etwa der gamescom und den Intel Extreme Masters geprägt. Insgesamt gehört dazu aber der gewaltige Unterbau an Organisation und Personal, ohne die eine Unterhaltungsindustrie und auch der Sport nicht auskommen.
So bestätigt sich die Initiative der EU und die daraus entstehenden Arbeitsaufgaben: Einen sehr großen Anteil am E-Sport-Erfolg haben die freiwillig Helfenden, die aus der Leidenschaft und Spielfreudigkeit für elektronische Spiele und Wettkämpfe überdurchschnittlich viel unbezahlte Arbeit leisten. Hier ist Unterstützung der Grassroots-E-Sport-Gemeinschaft in jeder Form gefordert!