Ein neues KI-Programm soll die Verkaufschancen jedes Buches vorhersagen. Haben unbekannte Autoren dann keine Chancen mehr? Frank Duscheck, der das Programm mitentwickelt hat, weist im Gespräch mit Ludwig Greven solche Befürchtungen zurück und erklärt, wozu es dienen soll.

 

Ludwig Greven: Das im Buchmarkt führende Marktforschungsunternehmen Media Control bietet den Verlagen seit Jahresbeginn das KI-Instrument Demandsens Ihrer Firma BearingPoint an, das die Verkaufschancen jedes Buchs angeblich mit bis zu 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit vorhersagen kann. Was ist an dem Programm anders als bei den bisherigen zur Analyse und Planung des Buchabsatzes?

Frank Duscheck: Demandsends haben wir ursprünglich für einen Verlagskunden in Frankreich entwickelt. Seitdem wird es dort von Buch- und Presseverlagen genutzt in der ganzen Kette von der Programmplanung, Auflagenplanung bis zur Belieferung der einzelnen Verkaufsstellen, also der Logistik. Wir sind da Marktführer oder zumindest einer der führenden Anbieter. Als wir überlegten, wie wir unsere Lösung auch für den deutschen Markt mit einem möglichst hohen Nutzen für die hiesige Verlagsbranche einsetzen können, kam die Zusammenarbeit mit Media Control zustande, die über die Daten des gesamten deutschen Buchmarkts verfügen. Wir nutzen diese Daten, um die Chancen von Büchern mit Blick auf die Verkaufszahlen zu prognostizieren.

 

Was für Daten sind das?

Media Control kennt seit Jahrzehnten die Charakteristik aller Bücher. Zu welchem Genre gehören sie, welches Thema, welcher Autor, welcher Verlag, wann wurden sie publiziert. Also die typischen Merkmale jedes Buchs. Sie erstellen daraus Beststellerlisten und die Marktdaten für die verschiedenen Verlagshäuser. Wir dürfen diese Daten im Rahmen der Partnerschaft nutzen und stellen den Verlagen ein Programm zur Prognose der Verkaufschancen zur Verfügung.

 

Wie geht das konkret vor sich, wenn ein Verlag einen neuen Titel auf den Markt bringen will?

Demandsens sucht gleichgelagerte Bücher, die es schon gab oder gibt, und schaut, wieviel hat der Autor oder der Verlag davon in den vergangenen Jahren verkauft, und analysiert weitere Kennzahlen, die die Künstliche Intelligenz nutzt, um die Bücher zu vergleichen und den besten Vergleich herauszufinden. Als Ergebnis sagt sie dann: Nach den vorliegenden Daten werden die Verkaufszahlen in den ersten drei, sechs, zwölf Wochen so aussehen. Denn in dieser Zeit entscheidet sich im Grunde, ob sich ein Buch erfolgreich verkauft oder nicht. Das hilft den Verlagen sehr, denn gerade in den ersten Wochen ist der Absatz sehr volatil. Gibt es in den Buchhandlungen zu wenig Exemplare, gehen Verkäufe verloren, die Kunden warten. Die Verlage sind bei Nachdrucken auch nicht mehr so flexibel. Was man am Anfang nicht druckt, ist dann auch nicht mehr schnell verfügbar. Und wenn sie zu viele drucken, liegen die Bücher in den Lagern und Verkaufsstellen und müssen remittiert werden. Das kostet. Deshalb ist es für die Auflagenplanung so wichtig, dass möglichst präzise vorherzusehen. Das machen wir mit Demandsens.

 

Sie nutzen also nur Daten der Vergangenheit, um in die Zukunft zu sehen, nicht auch weitere Daten und Informationen aus dem Internet, welche Themen und Stile etwa gerade trenden?

Bisher nicht, jedenfalls nicht im ersten Schritt. Aber wir haben eine ganze Reihe weiterer Ideen. So hat Media Control gerade eine Vereinbarung mit BookTok, einem Ableger von TikTok, getroffen. Da werden Bücher für junge Erwachsene in kurzen Videos besprochen und empfohlen und kommen dadurch bei der Zielgruppe ins Gespräch, bislang allerdings nur für den englischsprachigen Markt.

Man könnte auch weitere Informationen von Internetplattformen und Suchmaschinen auswerten, um den Algorithmus zu verbessern. Beim Start arbeiten wir aber erst mal nur mit den vorhandenen Marktdaten.

 

Was ist dabei der Vorteil von KI? Das könnte man doch auch mit herkömmlichen Mitteln tun.

Ja, aber wir gehen davon aus, dass die Künstliche Intelligenz die Verkaufschancen wesentlich genauer berechnen kann als ein Mensch. Sie wird die Lektoren und Verlagsmanager nicht ersetzen, sondern ihnen Entscheidungshilfen bieten. Allerdings kann man sich in einem nächsten Schritt vorstellen, wenn die ersten Verkaufszahlen vorliegen, dass man dann anhand dieser Daten die Chancen für den gesamten Lebenszyklus eines Buches errechnet, wenn das Thema zum Beispiel wieder aktuell wird und einen zweiten Frühling erlebt. Ich habe »Herr der Ringe« mit 14 gelesen und konnte mir nicht vorstellen, dass es so eine Riesengeschichte in den Kinos wird. Aber so etwas passiert, und für die Verlage ist es wichtig, so etwas mit einzubeziehen.

 

Wie ist es aber, wenn künftig ein Autor mit einem solch ungewöhnlichen Sujet wie damals Tolkien mit »Herr der Ringe« an einen Verlag herantritt? Seit Demandsens auf der Frankfurter Buchmesse angekündigt wurde, gibt es Befürchtungen, dass neue, unbekannte Autoren keine Chance mehr haben, wenn die Verlage sich alle nach KI-generierten Prognosen richten.

Die bisherigen KI-Programme für die Branche bieten vor allem Hilfen beim Erstellen von Manuskripten bis zu E-Books an, also für den Content, die Verarbeitung und Produktion. Wir analysieren und optimieren Geschäftsprozesse, den kommerziellen Erfolg. Dabei versuchen wir natürlich, die Bücher immer besser zu verstehen, zum Beispiel den Schreibstil oder das Thema, um möglichst genaue Vergleiche zu finden. Aber die Bücher sind schon fertig, der Verkaufsstart steht fest. Es hat daher keinen Einfluss auf ihren Entstehungsprozess und die Entscheidung, ob ein Verlag sie verlegt.

 

Ist jedoch nicht zu erwarten, dass ihre Prognosen künftig auch darauf einwirken werden?

Wir haben keine Ziele in diese Richtung, etwa schon Manuskripte oder Exposés zu analysieren. Ich bin fest davon überzeugt, dass es neben den großen Verlagen, die schon heute sehr betriebswirtschaftlich geführt werden, die die großen Autoren und entsprechende Marketingbudgets und Auflagen haben und bei Innovationen eher zurückhaltend sind, weiterhin kleinere geben wird, die sich genau mit solchen Autoren beschäftigen. Manche suchen sich ja extra solche Nischen. Da glaube ich an unsere Demokratie und die Innovationsfähigkeit der Verlage.

 

Aber wird der Druck nicht wachsen, Ihr KI-Programm schon bei der Entscheidung zu nutzen, ob ein Buch überhaupt entstehen soll, da ja immer weniger Menschen Bücher kaufen und viele kleinere Verlage um ihre Existenz kämpfen?

Vorstellbar ist es, dass KI-Programme künftig auch Vorschläge für Buchinhalte machen. Die Erfahrungen mit ChatGPT zeigen allerdings, dass dabei eine gewisse Gleichmacherei entsteht. Aber wir sind da nicht dran. Wir unterstützen alle Verlage gleichermaßen, ob große und bekannte Autoren oder kleine, unbekannte, und zwar nur in einer besseren Auflagenplanung. Das hat auch einen Nachhaltigkeitseffekt. Denn alles, was nicht verkauft wird, wurde dennoch gedruckt. Das gilt auch für Zeitungen. Die haben einen Lebenszyklus von nur einem Tag. Die nicht verkauften Exemplare werden abends weggeworfen oder recycelt. Am besten werden sie aber gar nicht gedruckt und ausgeliefert. Genauso Bücher. Das schont die Verlagsbudgets und die Umwelt.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2025.