30.000 Kulturräume, von Hunderttausenden gestaltet und millionenfach besucht: Die Friedhöfe in Deutschland sind unverzichtbare Gedächtnislandschaften unserer kulturellen Identität und zugleich unsere größten Skulpturenparks, grünsten Philosophieforen, lebendigsten Geschichtsbücher. Und dennoch bleiben sie vom kulturpolitischen Radar weitgehend unbeachtet, werden oft als gestrig abgekanzelt und feuilletonistisch ignoriert. Das gilt es zu ändern!
Kultur, die man unmittelbar erleben und mitgestalten kann, die niedrigschwellig alle Bevölkerungsschichten erreicht sowie auf breiter Ebene an- und wahrgenommen wird: Welches Museum, welches Theater, welches Konzerthaus würde dies nicht gerne für sich beanspruchen? Wonach man sich andernorts in der deutschen Kulturlandschaft streckt, ist im Kulturraum Friedhof selbstverständlich. Dazu zählt gelebte Partizipation wie beim Selbstanlegen und Pflegen von Gräbern als kleine Gärten der Erinnerung. Indem Menschen jenseits von Herkunft, Religion oder sozialer Stellung Gräber nach ihren Gestaltungsvorlieben und -geschmäckern ausgestalten, entsteht zugleich ein einzigartiger kultureller Spiegel.
Mehr noch: Friedhöfe entpuppen sich bei genauer Betrachtung als gesellschaftlicher Seismograf: Die sich verändernden Lebens- und Arbeitsbedingungen lassen sich unmittelbar auf dem Friedhof ablesen. So forcieren beispielsweise mobile Lebenskonzepte den Wunsch nach pflegefreien Grabanlagen oder sich verändernde Partnerschaftskonzepte den Wunsch nach neuen Gemeinschaftsgrabanlagen. Die Tendenzen und Umbrüche in unserer Gesellschaft spiegeln sich auch in der spannenden Herausforderung, muslimische Bestattungsrituale in unseren christlich-abendländisch geprägten Friedhofsalltag zu integrieren.
Die Friedhofskultur in unserem Land erweist sich dabei als äußert lebendig und wandlungsfähig: So weiten Friedhofsverwaltungen landauf, landab ihre Grabangebote aus: vom klassischen Einzelgrab über Urnengräber in Gemeinschaftsgrabanlagen bis hin zur Beisetzung unter Bäumen kann man fast überall unter verschiedenen Bestattungsformen wählen. Vielen Friedhofsträgern ist es zudem wichtig, ihre Friedhöfe konsequenter an den Bedürfnissen der Hinterbliebenen auszurichten, beispielsweise in Bezug auf Grabpflege und Öffnungszeiten. Und sie achten auf nachhaltige, grüne Bewirtschaftung: Friedhöfe sind im urbanen Raum die Grünflächen mit der höchsten Biodiversität. Sie verbessern Luftqualität, mindern das Aufheizen im Sommer und bieten Flora und Fauna ruhige Lebensräume.
Zugleich öffnet sich vielerorts dieser Kulturraum und wird von Kulturschaffenden als inspirierender Ort entdeckt: Bildende Künstlerinnen und Künstler schaffen ortsbezogene Werke, Lichtkunstevents auf dem Friedhof locken Tausende von Besuchern an und Filmvorführungen zwischen Grabsteinen sorgen für Kinofeeling der besonderen Art.
Bei diesen Veranstaltungen wird besonders deutlich, dass Friedhöfe nicht nur Orte der Toten, sondern vor allem auch der Lebenden sind. Die soziale Dimension der Friedhofskultur wird allerdings oft unterschätzt. Nicht nur, dass Trauer- und Erinnerungsrituale zu intensiven Begegnungen der Hinterbliebenen führen: Nach dem Abschied von einem geliebten Menschen ermöglicht der Friedhof alleinstehenden Trauernden erste Schritte aus der Vereinsamung sowie soziale Teilhabe und mitmenschliche Begegnungen.
Nicht zuletzt entfaltet der Kulturraum Friedhof große integrative Kraft: Im Trauern und Erinnern einen sich Menschen. Das gilt besonders auch beim Gedenken für die Opfer von Krieg- und Gewaltherrschaft. Auf Soldatenfriedhöfen ermöglichen so beispielsweise europäische Treffen an Volkstrauertagen Versöhnung über Grenzen hinweg. Zugleich mahnen die Grabsteinreihen der vielen Gefallenen zu Einheit und Frieden – Signale, die in ihrer tiefgreifenden Bedeutung gerade heute unverzichtbar sind.
Nicht nur Soldatenfriedhöfe verweisen auch auf die historische Dimension der Friedhofskultur: Die Grabfelder lassen sich als lebendige Geschichtsbücher lesen, die sich ständig fortschreiben und erneuern. Auf ihnen lässt sich nicht nur die Historie der Dörfer, der Städte oder des Landes nachspüren: Auch persönliche Lebenslinien bleiben durch Grabstätten von Verwandten, Freunden oder Nachbarn erkenn- und nachvollziehbar.
Der mögliche kulturelle Gewinn für jeden Einzelnen zeigt sich beim Besuch dieser Kulturräume: Vor allem in hektischen Städten bieten Friedhöfe ruhige Rückzugsräume vom stressigen Alltag. Sie laden ein, über die großen Fragen des Menschseins nachzudenken: Woher komme ich, wohin gehe ich? Friedhöfe lassen sind so auch als die bestbesuchten Philosophie-Räume unseres Landes bezeichnen.
Allein: Kulturpolitik nimmt den Facettenreichtum dieser Kulturform kaum wahr. Vor allem das Feuilleton berichtet nur in Ausnahmefällen über die Friedhofskultur in Deutschland, welche 2020 zum Immateriellen Kulturerbe ernannt wurde. Das »Thema Friedhof« findet sich zumeist auf hinteren Lokalseiten. Oft genug geht es dann vorwiegend um Kosten und Gebührenerhöhungen. An diesem Umgang mit der Friedhofskultur zeigt sich, dass Kultur auch in diesem Bezug eine untergeordnete Rolle spielt und der Fokus auf Monitärem liegt.
Über die Ursachen dieses feuilletonistischen Desinteresses lässt sich derzeit nur spekulieren – wissenschaftliche Forschung zum Thema fehlt nämlich ebenso wie die Berichterstattung in den Kulturmedien. Aber man liegt sicherlich nicht falsch, wenn man die nach wie vor vorhandene gesellschaftliche Tabuisierung des Themas »Tod« als wichtigen Faktor benennt. Nicht von der Hand zu weisen ist auch die Argumentation, dass Teile der Kultureliten den kulturellen Wert nicht erkennen. Der Blick liegt auf wenig inspirierten Massengestaltungen und nicht auf herausragenden Werken. Entsprechend nimmt man den Friedhof als uninteressant wahr, nicht zuletzt auch, weil er sich den gängigen Mechanismen des Kulturmarktes entzieht. Es gibt keine »Stars« zu feiern, keine »Millionenobjekte« vorzustellen, keine »Kulturskandale« zu beleuchten.
Dass auch hier die Ausnahme die Regel bestätigt, zeigt sich am Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin: Auf diesem kleinen Grabfeld im Herzen Berlins mit den Gräbern von Bertolt Brecht, Christa Wolf oder Fritz Teufel glänzt eine Friedhofskapelle mit Lichtkunst von James Turrell. Und selbstverständlich beachten Kulturjournalistinnen und -journalisten immer wieder diesen herausragenden Leuchtturm der Friedhofskultur, der all das mit sich bringt, auf das sie anspringen: Promifaktor, internationales Kunstschwergewicht und Vorzeigecharakter im Metropolzentrum. Gleiches gilt, wenn Superlative im Spiel sind, wie z. B. in Hamburg-Ohlsdorf, dem größten Parkfriedhof der Welt. Aber abgesehen davon bleiben beachtenswerte künstlerische Grabskulpturen, Gedenksteine oder Erinnerungsstätten, die sich auf vielen Friedhöfen finden, feuilletonistisch weitgehend unbeachtet. Hier gibt es viel zu entdecken!
Rund um den Globus und zu allen Zeiten ist die Art und Weise, wie man mit den Toten umgeht und der Vorfahren gedenkt, unverzichtbarer Teil jedes gesamtkulturellen Selbstverständnisses. Dementsprechend prägen Bestattungsorte unseren Blick auf vergangene Kulturen maßgeblich mit – man denke nur an die Pyramiden oder den Taj Mahal.
Bei uns sind es die Friedhöfe, die äußerst facettenreiche Gedächtnislandschaften bilden und die nach wie vor in der Bevölkerung auf breite Akzeptanz stoßen – nur eine Minderheit lässt sich außerhalb des Kulturraums Friedhof beisetzen wie in den Bestattungswäldern gewinnorientierter Privatunternehmen. Es ist an der Zeit, dass auch Kulturpolitik und Feuilleton die identitätsstiftende Kraft unserer Friedhofskultur angemessen anerkennen – die kommenden Gedenktage im November sind dafür bestens geeignet.