Was ist eigentlich »deutsch«? Mit dieser Frage nach unserer Identität tun wir uns grundsätzlich schwer: zu vielfältig, vielseitig, vielschichtig scheinen die Antwortmöglichkeiten. Da es dabei im Kern auch um unsere kulturelle Herkunft geht, ist eine sinnvolle Rechercheoption, dazu unsere Friedhöfe zu befragen und auf den Gräbern, den stillen Wohnzimmern unserer Vorfahren, nach Indizien zu suchen. Das lohnenswerte Unterfangen fördert ein sehr eindeutiges Bild zu Tage, nämlich genau dieses: ein vielfältiges, vielseitiges, vielschichtiges. Es gibt nicht die eine unverwechselbare deutsche Friedhofskultur, sondern ein enorm breites und sich stets weiterentwickelndes Spektrum – und dies gleich in zweifacher Hinsicht. Da sind zum einen die persönlichen Grabgestaltungen. Diese unterscheiden sich meist deutlich voneinander und spiegeln beispielsweise den jeweiligen Zeitgeist oder auch individuelle Geschmacksvorlieben wider. Zum anderen sind es die über 30.000 Friedhöfe selbst, die höchst unterschiedlich angelegt sind: Das Bild reicht vom großen städtischen Parkfriedhof über kleinere, abgegrenzte innerstädtische Ruheareale bis hin zu sehr kleinen Dorffriedhöfen mit nur wenigen Grabstellen.

Eines der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale definiert der regionale Hintergrund. Im Norden wie im Süden, im Osten wie im Westen spiegeln sich sowohl in der Grab- als auch in der Friedhofsgestaltung Traditionen und Geschichte, Klima und Umwelt, Bevölkerungsstrukturen und Zugehörigkeiten, religiöse oder geistige Grundausrichtungen. So erklärt es sich, dass ein evangelisch geprägter Friedhof an der See ein ganz anderes Bild abgibt als ein katholischer in den Alpen, und ein Friedhof in einer Arbeitersiedlung des Ruhrgebiets ein anderes als in einem angesagten Stadtteil Berlins.

Allen Regionen ist jedoch gemein, dass vor allem auf dem Land, wo sich örtliche Traditionen erhalten haben, besondere Kleinode unter den Friedhöfen zu finden sind. Wie beispielsweise der romantische Seemannsfriedhof in Prerow, der älteste auf der Ostseehalbinsel Zingst: Im Schatten einer malerischen kleinen Kirche mit sehenswertem Holzturm erzählen hier im Norden Mecklenburg-Vorpommerns die Grabsteine vom Leben und Sterben zahlreicher Seeleute und Kapitäne. Allenthalben ziert Schiffs- und Seefahrtsymbolik den Dorffriedhof und verdeutlicht eindringlich die Geschichte des kleinen Ostseebads, das von der engen Verbindung der Menschen zum Meer geprägt ist.

Ein gänzlich anderes Bild hingegen zeigt sich auf dem einzigartigen Friedhof des mittelfränkischen Dorfs Dinkelsbühl-Segringen. Auf einer kleinen Anhöhe überrascht dieser Kulturort nämlich durch eine absolut einheitliche Grabgestaltung. Identisch gestaltete Holzkreuze zieren alle Ruhestätten. Der Ursprung dieser sogenannten »Segringener Kreuze« mit ihren geschnitzten und gemalten Blattgoldverzierungen liegt vermutlich im frühen 19. Jahrhundert, vielleicht sind sie aber auch erst um 1850 entstanden. Sicherlich waren in der Vergangenheit auch auf den umliegenden Friedhöfen gleich gestaltete Grabkreuze üblich; hier in der gut 200 Einwohnerinnen und Einwohner zählenden Gemeinde aber hat sich der einheitliche Brauch erhalten, der auch in Ordensgemeinschaften und Klöstern anzutreffen ist. Auf den Segringer Grabzeichen sind nach dem Vor- und Nachnamen der Beruf und der Wohnort angegeben. Zudem ist das Lebensalter auf Jahr, Monat und Tag genau datiert. Aber nicht nur die Vorder-, sondern auch die Rückseiten der gut zwei Meter hohen Kreuze sind einheitlich ausgeführt. Dort sind die Bibelverse zu lesen, über die an den Beerdigungen gepredigt wurde. Zumeist handelt es sich dabei um den jeweiligen Konfirmationsspruch. Außerdem sind hier alle Gräber fast gleich eingefasst und sehr ähnlich bepflanzt, was das äußerst stimmige Gesamtbild weiter unterstreicht.

Doch damit nicht genug der Besonderheiten auf diesem überaus sehenswerten, anrührenden und beeindruckenden Friedhof. Hier gibt es nämlich keine Ehe- oder Familiengräber. Die Menschen werden der Reihe nach entsprechend ihres Todestages auf dem nächstfreien Grabplatz beerdigt, was den besonderen Zusammenhalt der Dorfgemeinschaft über den Tod hinaus verdeutlicht. Und noch etwas wird in Segringen sichtbar: Die Kulturschätze unseres Landes finden sich nicht nur an berühmten Orten, sondern auch dort, wo man sie kaum vermutet, nämlich auf Dorffriedhöfen.

Die Frage: »Was ist deutsch?« – aktuell auch durch die Leitkulturdiskussion der CDU befeuert – wurde vor fast 15 Jahren nach der Rede des damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff zum 20. Jahrestag der deutschen Einheit besonders kontrovers diskutiert. In seiner Ansprache am 3. Oktober 2010 sagte dieser, dass der Islam zu Deutschland gehöre. Lässt sich das so formulieren? Auch dazu bieten unsere Friedhöfe eine Antwortoption: Auf dem Land wie rund um Segringen sind muslimische Grabfelder nach wie vor die Ausnahme, in allen Großstädten und Metropolregionen aber selbstverständlich. Das war übrigens zu Wulffs Präsidentenzeiten noch anders – damals gab es selbst in Berlin nur vereinzelte muslimische Beisetzungen. Das zeigt: Unsere Friedhofskultur entwickelt sich wie unser Land stets weiter – und bleibt spannend!

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2024.