Seine letzte Dienstreise führte den Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Hermann Parzinger ins rheinhessische Gau-Algesheim. Am Schloss Ardeck traf er auf Peter Frey, bis September 2022 Chefredakteur des ZDF. Anlass war die Eröffnung der Ausstellung »Artefakte(n)« in Schloss Ardeck – ein Beitrag zur Debatte um Digitalisierung und künstliche Intelligenz.
Unter anderem geht es in der Ausstellung um das Thema »Modell – Form – Abguss«. Im Begleittext heißt es: »Kein Original, nur ein Abguss. Keine Kunst, nur Handwerk. Nichts Echtes, nur eine Kopie. Darf man Abgüsse innerhalb des bildhauerischen Schaffens so einordnen? Oder sind sie etwas Eigenständiges – sind selbst Kunst. (…) Bereits Jahrhunderte, bevor die Worte analog und digital überhaupt Einzug in den Sprachgebrauch hielten, gab es diese Verfahren. (…) Sogar im alten Ägypten wurde bei Ausgrabungen eine Gipsformerei entdeckt. (…) Lange bevor Prozessoren sich einmischten, war der Prozess bereits etabliert.« Hier dockt das von Lisa Ruhfus moderierte Gespräch zwischen Parzinger und Frey an.
Lisa Ruhfus: In der Ausstellung geht es unter anderem um den Prozess auf dem Weg zu einem Gipsabguss. Seit wann gibt es solche Gipsabgüsse?
Hermann Parzinger: Bei den Gipsabgüssen geht es um die Abformung. Man hat sich schon früh darüber Gedanken gemacht, wie man das, was man sieht, vervielfältigen, wiedergeben kann. Wir haben in Berlin eine der ältesten Gipsformereien, die übrigens früher Kunstmanufaktur hieß, das ist der eigentliche, der traditionelle Name, schöner als »Gipsformerei«. Da denkt man an Leute mit Schürze und hochgekrempelten Ärmeln, die Arme voller Gips. Das sind aber wirklich Künstler, es ist ein Kunsthandwerk, es verbindet Handwerk und Kunst. Sie können ein Objekt in 3D scannen und danach ausdrucken, aber einen Gipsabguss zu fertigen, ist viel anspruchsvoller, das ist wahres Kunsthandwerk. Da muss nachgearbeitet werden, man will natürlich ganz nah am Original sein, aber es ist trotzdem ein künstlerischer Prozess. Alte Abgüsse sind auch eine bedeutende Quelle für künstlerische Zeugnisse, deren Originale im Laufe der Zeiten Schäden erlitten haben.
Peter Frey: Wir sind jetzt mit der Frage konfrontiert, in welchem Zeitalter leben wir? Das Zeitalter der Reproduktion? Das war Max Frisch – 50er Jahre. Heute leben wir im Zeitalter der künstlichen Intelligenzen, der schrankenlosen Vervielfältigung und des hemmungslosen Klaus intellektueller Hervorbringungen. Wenn wir Suchmaschinen fragen, kriegen wir in Sekundenschnelle eine Antwort. Aber die Fragen bleiben offen: Wer hat es eigentlich herausgefunden? Kann ich mich darauf verlassen? Wem gehört das? Wer hat das geistige Eigentum geschaffen? Das wird nicht so schnell beantwortet. Da werden Inhalte in einer Hemmungslosigkeit zweitverwertet, drittverwertet – und dann verliert sich oft genug die Spur, wer das eigentlich erarbeitet hat. So wie die Archäologen sich vergewissern müssen, ob das jetzt ein Originalfundstück ist oder ob es auch damals schon eine Reproduktion war, was der Ötzi da in der Tasche hatte, müssen wir, um Fehler zu vermeiden und Eigentumsrechte zu respektieren, in Zukunft noch viel genauer klären, woher kommt das eigentlich, können wir uns darauf verlassen, was ist die Quelle?
Ruhfus: Ich möchte auf Ihre Zeit als Archäologe kommen. Sibirien, Fürstengräber: Das klingt so wie in einem Action-Film. Sie haben auch Ausgrabungen im Gebirge gemacht.
Parzinger: Wir waren 2006 eine deutsch-russisch-mongolische Expedition. Seit Ende des 19. Jahrhunderts, als deutsche Forscher im Auftrag der Petersburger Akademie der Wissenschaften zum ersten Mal im Hochaltai tätig waren, wusste man, dass es dort sogenannte Eiskurgane gab. In den Grabkammern sammelte sich Regen- und Sickerwasser und gefror sofort, wir befinden uns ja in der Permafrostzone. Als wir im Sommer dort oben im Hochgebirge auf 2.500 Meter Höhe waren, konnte es um die Mittagszeit zwar 20 bis 25 Grad warm werden, aber nachts fiel die Temperatur auf fünf bis zehn Grad minus. Das führte dazu, dass das einmal in der Grabkammer gefrorene Wasser nicht wieder auftaut. Wenn Sie ein solches Grab finden, dann sind der Körper des Verstorbenen und sein ganzes Inventar quasi im Eis erhalten. Vergleichbar mit dem Ötzi. Der ist aber zufällig zu Tode gekommen. Die Toten im Altai wurden dagegen bewusst dort oben bestattet.
Ruhfus: Wie viel Recherche war nötig, bis Sie wussten, dass Sie dort graben müssen?
Parzinger: Das ist dann Glück. Sie wissen nicht: Ist in einer solchen Grabkammer noch alles enthalten oder nicht? Wir haben mehrere Grabhügel untersucht, in drei Fällen waren sie leer, der vierte enthielt jedoch eine Eislinse und perfekt erhaltene organische Gegenstände und Reste einer tätowierten Mumie. Das war ein fantastischer Fund.
Eine andere bedeutende Entdeckung gelang uns in Arzan in Tuwa, einer autonomen Republik der russischen Föderation. Dort haben wir eine große Grabanlage ebenfalls aus der Skythenzeit untersucht, die stark zerstört war, deren Hauptgrab aber ungestört war und fast 6.000 Goldobjekte enthielt. Dies Entdeckung war reiner Zufall, weil wir nie damit gerechnet hätten. Wir dachten, das Grab wäre ausgeraubt und wollten eigentlich nur den Aufbau der Grabanlage untersuchen. Das war der bis heute bedeutendste archäologische Goldfund jenseits des Ural.
Ich weiß noch, wir hockten unten in der Grabgrube, vier Meter tief, blickten durch die Ritzen der Grababdeckung und sahen überall nur Gold liegen. Oben über uns standen die Grabungsarbeiter am Grubenrand, glatzköpfige, tätowierte Männer mit nacktem Oberkörper, und riefen: »Hey, was habt Ihr da? Ist da Gold?« Mein russischer Kollege schaute nach oben, dann schaute er mich an und sagte das einzige deutsche Wort, das er kannte: »Scheiße«. Natürlich ist die Freude über einen solchen Schatz groß, aber man steht sofort vor einem gewaltigen Problem: Wie sorgt man für Sicherheit! Am Ende bekamen wir vom tuwinischen Innenministerium zwei Veteranen aus dem ersten Tschetschenienkrieg mit schusssicheren Westen und Kalaschnikows, da fühlten wir uns sicher und konnten weiterarbeiten.
Ruhfus: Macht man als Journalist auch mal so einen Fund, der einen durchs Leben begleitet?
Frey: Ich habe etwas dabei, das hat auch mit Archäologie zu tun. Es geht auch in die Vergangenheit, nur nicht ganz so weit zurück. Zu Beginn meiner journalistischen Laufbahn habe ich mich stark mit Anna Seghers »Das siebte Kreuz« beschäftigt. Der Originalschauplatz dieser Geschichte ist in Osthofen. Im Roman heißt dieses KZ Westhofen. Als ich begann zu recherchieren, war das noch nicht Allgemeingut. Ich habe 1976 Abitur gemacht, da spielte die nationalsozialistische Geschichte unserer Region keine Rolle in der Schule.
Da war ich auch ein bisschen Archäologe, weniger hochtrabend: Heimatkunde. Ich bin nach Osthofen gefahren und habe die Leute gefragt, ob es Erinnerungen gibt; das war so ein bisschen Goldstaub, weil mir Leute erzählt haben, natürlich kann ich mich erinnern, als Kind, dass hier diese Kolonnen von Arbeitern durch den Ort gezogen sind. Die Eltern haben gesagt, dreht Euch um, kümmert Euch nicht. Das waren die politischen Gefangenen aus dem KZ Osthofen.
Dass es heute in Osthofen die offizielle Gedenkstätte des Landes Rheinland-Pfalz zur Geschichte des Nationalsozialismus in Rheinland-Pfalz gibt, hat, bei aller Bescheidenheit, auch mit dieser Recherche zu tun.
Parzinger: Es gibt die Archäologie der Neuzeit. Es werden inzwischen auch Kriegsgefangenen- und Konzentrationslager untersucht. Man denkt sich vielleicht: Was soll das bringen? Der Erkenntnisgewinn über die dortigen Lebensumstände ist jedoch enorm.
In der Archäologie versuchen wir, mit den materiellen Hinterlassenschaften die Geschichte der Frühzeit zu rekonstruieren. Für jüngere Geschichtsperioden denken wir oft, wir hätten schon ein komplettes Bild, das aber oft gar nicht so vollständig ist. So kann die Archäologie über das Leben in solchen Lagern enorm viele wichtige Details beitragen, über die keine historische Quelle sonst berichtet.
Frey: Da kann ich eine persönliche Geschichte beisteuern, von Angehörigen eines Holocaust-Opfers, da geht es um Theresienstadt. Theresienstadt war eine alte habsburgische Festungsanlage, und in die Anlage hinein wurde das KZ gebaut. Die Anlage war umgeben von Mauern und von Toren. In diesen ist aller möglicher Schutt und Müll verfüllt worden. Dieser gammelte Jahrzehnte vor sich hin, erst vor wenigen Jahren hat eine private Initiative begonnen, die Tore zu reinigen. Und siehe da: In den Wänden dieser Tore fanden sich Ritzungen, Gefangene haben dort letzte Lebenszeichen hinterlassen. Ihre Namen, Erinnerungen an ihre Verwandten, letzte Grüße, unter anderem vom Großvater einer guten Freundin, kurz, bevor er von Theresienstadt nach Auschwitz gebracht wurde.
Ruhfus: Herr Parzinger, ich habe gehört, dass das heute Ihre letzte Reise als Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist.
Parzinger: Meine letzte Dienstreise, ja.
Ruhfus: Sie mussten ja oft vermitteln zwischen Anspruch, Geschichte und Geld.
Parzinger: Es war eine faszinierende Tätigkeit bei der Stiftung. Ruhe gab es nie. Wenn man mal dachte, es wird eine ruhige Woche, dann konnte man sich darauf verlassen, dass wieder irgendetwas hochkochte. Ich habe nachgezählt, in den 17 Jahren meiner Präsidentschaft haben wir 14 Bauprojekte abgeschlossen. Das ist für das oft gescholtene öffentliche Bauen nicht schlecht. Dann die Restitutionsfragen im Zusammenhang mit dem Humboldt Forum, wo sich die Haltung der Museen im Umgang mit kolonialen Kontexten doch grundlegend verändert hat. Es gibt inzwischen unzählige Kooperationen mit Herkunftsländern in Afrika, Asien, Amerika – und plötzlich spielen Rückgaben gar nicht mehr so die große Rolle, es geht vielmehr um Teilhabe.
Außerdem sind wir ein wichtiger Player in der deutschen Forschungslandschaft. Bei vielen Excellenzclustern Berliner Universitäten, die eine kulturgeschichtliche Komponente besitzen, will man uns mit im Boot haben.
Frey: Sie haben, Herr Parzinger, viele Millionen in Ihrem Etat, aber – und das finde ich so sympathisch: Sie schwärmen noch immer von den Ausgrabungen in Sibirien und lassen uns teilhaben an dem ursprünglichen Reiz Ihres Berufs als Archäologe.
Ich sage das deshalb, weil man als Reporter, als Journalist, so etwas Ähnliches an sich hat. Man kann Chefredakteur mit 1.000 Kolleginnen und Kollegen sein, aber die Erinnerungen an die eigenen Geschichten, wie man sie gebracht und gemacht hat und welche Menschen man getroffen hat, das bleibt mehr als das andere.
Ruhfus: Ein schönes Schlusswort. Vielen Dank.