Wie ist es um das Kulturangebot in der Fläche bestellt? Ist die Kultur auf dem Land abgehängt – oder doch nachhaltiger Impulsgeber? Die Kulturdezernentin des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe Barbara Rüschoff-Parzinger und der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates Olaf Zimmermann diskutieren zu diesen und anderen Fragen mit Theresa Brüheim.

Frau Rüschoff-Parzinger, Sie sind Kulturdezernentin beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe. Was kennzeichnet die Region? Und vor allem was kennzeichnet die Kultur in der Region?

Rüschoff-Parzinger: Die Region ist sehr heterogen aufgestellt. Wir haben kleine Dörfer, Mittelzentren und auch größere Städte, die Menschen hier sind sehr unterschiedlich. Unser Ziel als Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) ist es, zu versuchen, gleichwertige Lebensverhältnisse zwischen den einzelnen Regionen herzustellen. Dabei ist das Thema Kultur vor allem in ländlichen Räumen eine große Herausforderung. Uns sind diese Schwierigkeiten ländlich geprägter Räume sehr bekannt. Wir sehen, insbesondere im Vergleich zu den Städten, was noch zu tun ist.

Herr Zimmermann, Sie sind in einer ländlichen Region aufgewachsen, aber leben seit vielen Jahren in der Großstadt. Fällt die Kultur im ländlichen Raum hinter der Kultur in der Stadt zurück?

Zimmermann: Es hat unglaublich viele Veränderungen gegeben. Als ich jung war, gab es sehr, sehr wenig Kultur im ländlichen Raum. Die Kirchen waren die einzigen richtigen kulturellen Orte – und es gab einen Männergesangverein, in dem ich als Jugendlicher mitgesungen habe. Aber wenn wir mal ehrlich sind, wir haben da nicht nur gesungen.

Es gab eine Landflucht. Ich bin auch vom Land in die Stadt geflüchtet. Für mich war das Weggehen vom Land auch ein Hingehen zu mehr Kultur.

Ich bin sehr froh, dass das heute nicht mehr so ist. Das ist Vergangenheit. Heute haben wir die umgedrehte Maßgabe: Wir haben eine Stadtflucht. Die Menschen ziehen von der Stadt auf das Land und nehmen ihre Erwartungen mit. Sodass das Land keine kulturelle Einöde mehr ist, sondern dort auch Kultur stattfindet. Das Angleichen der Lebensverhältnisse zwischen Stadt und Land, das Frau Rüschoff-Parzinger erwähnt, bedeutet eben auch, dass es auf dem Land immer öfter ein vernünftiges, qualitativ hochwertiges Kulturangebot gibt.

Zu den Hochzeiten der Coronapandemie haben wir nicht nur die Stadtflucht deutlich gesehen, sondern auch Heimatmuseen in ländlichen Regionen haben sich besonderer Beliebtheit erfreut. Inwieweit ist Heimat ein wichtiges Thema für die Kultur auf dem Land? Und welche anderen Themen prägen die Kultur in der Fläche?

Rüschoff-Parzinger: Das ist so eine Sache mit dem Begriff Heimat. Ja, Heimat ist wichtig – gar keine Frage, aber da setzt auch meine Kritik an. Heimat, Ehrenamt und ländliche Räume bilden immer eine Einheit. Und gegenüberstehen: die Stadt und die Hochkultur. Das ist eine Zweiklassengesellschaft, gegen die ich mich wehre. Die Kultur auf dem Land bekommt so immer den Stempel der Kategorie B aufgedrückt, gemäß dem Motto: »Da kann ja nichts Hochkarätiges bei rauskommen«. Beim LWL haben wir durch viele Projekte bewiesen, dass es anders sein kann. Natürlich sind Heimatmuseen wichtig und identitätsstiftend. Das gilt auch für Schützenvereine und Blaskapellen, die oft auf einem sehr hohen Niveau spielen und junge Menschen an den Instrumenten ausbilden. Aber Kultur auf dem Land kann darüber hinaus noch vielschichtiger sein – und hat sich in vielen Bereichen schon verändert. Das muss vielen noch bewusster werden.

Zimmermann: Für mich ist Heimat ganz zentral. Aber was oder wo Heimat ist, hat sich fundamental verändert. Für mich ist es nicht der Ort, in dem ich aufgewachsen bin. Natürlich habe ich zu diesem eine emotionale Bindung. Aber meine Heimat ist für mich heute der Ort, an dem es mir nicht egal ist, wie es ist. Ein Ort, an dem ich mich einbringe, aktiv werde und mich selbst verwirklichen kann. Es gibt auch keine Exklusivität von Heimat. Diejenigen, die immer irgendwo gewohnt haben, können nicht sagen: »Das ist meine Heimat und alle anderen sind nur Zugezogene. Das ist gar nicht deren Heimat.« In einer diversen Gesellschaft, wie wir sie heute haben, ist das der falsche Angang.

Mir stellt sich eher die Frage: Wie kann ich auf dem Land Heimatgefühl entwickeln? Möglicherweise geht das sogar schneller und besser als in mancher Stadt, weil es noch Freiräume und Lücken gibt, die man mit eigenen Aktivitäten bespielen und füllen kann.

Aber das widerspricht mitnichten dem, was Frau Rüschoff-Parzinger gesagt hat: Auf dem Land darf es keine B-Kultur geben. Wir müssen anstreben, dass immer so viel Kultur angeboten wird, wie möglich. Natürlich ist nicht immer alles exzellent, das kann es auch nicht sein. Aber auch in der Stadt ist nicht alles exzellent. Letztendlich kommt es auf eine gute Mischung an.

Frau Rüschoff-Parzinger, was sind die anderen Kulturthemen, die es in Westfalen-Lippe gibt?

Rüschoff-Parzinger: Wir haben z. B. zahlreiche Orte der Industriekultur. Das hört sich immer so urban an, aber Industriekultur ist auch ein Thema ländlicher Räume. In unserer Region gibt es z. B. das LWL-Industriemuseum Glashütte Gernheim, nahe der Grenze zu Niedersachsen an der Weser. Nicht weit entfernt liegt das LWL-Industriemuseum Ziegeleimuseum Lage. Diese Museen sind gleichzeitig Denkmäler der Industriekultur und müssen schon deshalb erhalten bleiben, weil sie wichtige Zeugnisse unserer Geschichte sind. Diese Denkmäler können aber nicht nur für sich stehen, sondern müssen mit Leben gefüllt werden.

Eine Besonderheit und ein Vorteil sind dabei, dass der Glasofen in Gernheim internationale Künstlerinnen und Künstler anzieht, die an diesem Ort hochkarätige Kunst produzieren, denn viele dieser Kunstschaffenden haben andernorts nicht die Möglichkeit, selbst an einem Glasofen zu arbeiten. Diese Arbeiten sind Teil von herausragenden Sonderausstellungen, die auch international ausgetauscht werden. Zudem unterrichten die Künstlerinnen und Künstler die Besuchenden in der Herstellung von Glasprodukten. Auch der historische Ort an der Weser selbst, quasi das größte Exponat, erfreut sich großer Beliebtheit. Man hat dort also beides.

Im LWL-Industriemuseum Ziegeleimuseum Lage werden andere Schwerpunkte gesetzt. Hier wird Sozialgeschichte z. B. am Thema Wanderarbeit aufgearbeitet und mit aktuellen Fragestellungen wie Migration verknüpft.

Diese beiden Kulturorte haben jeweils 30.000 und 40.000 Besucherinnen und Besucher im Jahr. Das ist wirklich sehr beachtlich für Orte abseits der Verkehrsströme. Die ganze Region profitiert auch davon, dass es dort so gut besuchte Museen gibt. Das sind Wirtschaftsfaktoren, aber vor allem Identifikationspunkte für die Region.

Ich möchte auch gern noch unser LWL-Freilichtmuseum in Detmold nennen, eines der größten in Europa. Ursprüngliches Ziel war, ländliche Baukultur zu dokumentieren. Ausschlag für die Gründung des Museums waren extreme Veränderungen in der Landwirtschaft, die sich auch auf die gebauten Strukturen auswirkten. Es bestand die Gefahr, dass historische Gebäude für immer verlorengehen. Die Häuser wurden so vor Ort ab- und im Museum wieder aufgebaut, über die Jahre haben wir rund 120 Objekte errichtet. Doch die Inhalte des Museums wurden weitergedacht: Heute erzählen wir auch die Geschichten der Menschen hinter diesen Gebäuden und behandeln tagesaktuelle Themen. Außerdem bekommen wir nun zusätzlich ein Ausstellungs- und Eingangsgebäude, welches ein Null-Energie-Museum sein wird – mit tragenden Lehmwänden, Ökobeton und vielem mehr. Wir haben Bauten aus der Vergangenheit dokumentiert, daraus gelernt und errichten jetzt ein Gebäude der Zukunft. Denn auch das ist Kultur im ländlichen Bereich: ein Raum, aus dem viel Innovation erwachsen kann.

Herr Zimmermann, vor welchen kulturpolitischen Herausforderungen steht die Kultur auf dem Land?

Zimmermann: Die Kultur steht immer vor der Frage, ob sie ausreichend wahrgenommen wird. Das ist sicherlich auf dem Land eine besondere Herausforderung.

Vor zwei Jahrzehnten habe ich die Frage gestellt: Braucht es diese Landschaftsverbände wie den LWL wirklich? Ist das nicht eine zusätzlich bürokratische Ebene? Reicht es nicht, wenn Land und Kommune zuständig sind? Heute finde ich, dass sich gezeigt hat, dass diese Idee einer regionalen Zwischenstruktur in Nordrhein-Westfalen sehr gut funktioniert. Es gibt damit eine regionale Verantwortung. Es ist sinnvoll, regionale Absprachen zu treffen und eine regionale Kulturentwicklungsplanung zu gestalten. So kann mehr an der Exzellenz der Kunst und Kultur auf dem Land gearbeitet werden: Die zukünftige Kulturpolitik auf dem Land muss genauso ernsthaft betrieben werden wie eine Kulturpolitik in der Großstadt.

Rüschoff-Parzinger: Diese Erfahrung habe ich häufiger gemacht. Insbesondere beim Thema Kultur werden die Landschaftsverbände sehr geschätzt. Wir kümmern uns z. B. auch um regionale und kommunale Archive, von denen es in Nordrhein-Westfalen über 400 gibt. Wichtige Herausforderungen sind unter anderem Digitalisierung und Substanzerhalt. Die Fachkräftesituation ist im Archivwesen schon seit vielen Jahren besonders schwierig, gerade in kleineren Städten bleiben viele Stellen unbesetzt und werden von Personen ohne archivarische Fachausbildung betreut.

Zum LWL gehört das LWL-Archivamt. Wir bilden für kommunale Archive aus, wir beraten bzgl. digitaler Archivsysteme, wir hosten die Servertechnik etc. Auf diese Leistungen können viele kommunale Archivämter nicht verzichten.

Lassen Sie uns noch über das Thema Kultur und Nachhaltigkeit auf dem Land sprechen. Sie hatten es schon erwähnt, Frau Rüschoff-Parzinger, beim Freilichtmuseum Detmold ist ein nachhaltiger Museumsbau in Planung. Inwieweit kann Kultur auf dem Land besonders nachhaltig sein?

Rüschoff-Parzinger: Unser großes Ausstellungsprojekt »Kultur 21« setzte z. B. gezielt bei den Themen Nachhaltigkeit, Umwelt, Klimaveränderung, Ernährung und Zukunft auf dem Land an. Dabei habe ich erlebt, dass viele Künstlerinnen und Künstler nicht mehr im »White Cube« der Stadt, sondern gerne auf dem Land arbeiten und wirken wollen. Ländliche Räume müssen sich auch dafür noch stärker öffnen. Wenn wir das schaffen, könnten wir sogar eine Modellregion sein.

Gerade stehen auch auf dem Land die Auswirkungen der Pandemie und die Energiekrise im Fokus. Diesbezüglich müssen wir unterstützen und helfen. Wir haben bereits eine große Energieplattform mit unserem Schwesterverband Rheinland und dem Land NRW projektiert. Hier sollen auch ganz gezielt Fördermöglichkeiten für ländliche Regionen aufgezeigt und angeboten werden, damit Kultureinrichtungen über solche schwierigen Situationen hinwegkommen und sich außerdem nachhaltiger aufstellen können. Mehr Nachhaltigkeit ist auch besonders im ländlichen Raum sehr wichtig und eine sehr große Chance.

Zimmermann: Der ländliche Raum ist ja kein Naturparadies. Es muss sehr vieles angepackt werden. Da gibt es besondere Chancen, aber auch besondere Probleme. In einer Stadt wie Berlin findet sich eine höhere Insektenvielfalt als auf dem Land. Intensive Landwirtschaft hat zu einer totalen Verarmung der Artenvielfalt geführt. Wir brauchen eine ökologisch-transformatorische Revolution auch auf dem Land. Nachhaltigkeit erreiche ich nicht nur durch neue Gebäude, sondern durch den Erhalt. Dazu zählt auch, dass nicht jeder einen Privat-Pkw braucht. Entsprechend müssen die öffentlichen Nahverkehrsmittel auf dem Land ausgebaut werden. Es gibt auf dem Land eine ganze Menge zu tun. Der Kulturbereich kann bei diesen Veränderungen, die unumgänglich sind, eine Vorreiterfunktion übernehmen.

Rüschoff-Parzinger: Ich stimme zu hundert Prozent zu. Gerade Kultur kann es schaffen, eben diese Probleme und Herausforderungen nochmals zu unterstreichen und aufzuzeigen. Auch deshalb wollen viele Künstlerinnen und Künstler aufs Land. Es gibt dieses Spannungsverhältnis: Auf dem Land passieren viele Dinge, die nicht nachhaltig sind. Deshalb kann man auch hier oftmals besonders gut ansetzen.

Herr Zimmermann, wollen Künstlerinnen und Künstler wirklich aufs Land und dort was verändern? Wie ist Ihre Wahrnehmung?

Zimmermann: Natürlich haben wir in den großen städtischen Hotspots immer noch sehr viele Künstlerinnen und Künstler. Berlin, meine Heimatstadt, ist quasi künstlerüberfüllt. Das ist nicht unproblematisch. Es gibt mehr als 3.000 Künstlerinnen und Künstler, die nur im Bereich der bildenden Kunst der Künstlersozialkasse angehören. Dazu kommt ein großer Anteil, der nicht in der Künstlersozialversicherung Mitglied ist. Alle kämpfen auf diesem kleinen Markt – auch in einer großen Stadt. Für viele Künstlerinnen und Künstler kann es inhaltlich und ökonomisch eine Alternative sein, aufs Land zu gehen. Nicht nur, weil dort die Mieten auch für Ateliers günstiger sind, sondern man hat als auf dem Land arbeitender Künstler automatisch ein Alleinstellungsmerkmal, weil es einfach weniger Kolleginnen und Kollegen gibt. In der Stadt ist das nicht so einfach. Das kann für die Grundfinanzierung sinnvoll sein. Gute elektronische Kommunikationswege erleichtern diesen Schritt natürlich.

Welche Grundbedingungen braucht es, um ländliche Regionen weiter als Kulturorte der Zukunft auszubauen? Welche Strukturen müssen noch geschaffen werden?

Rüschoff-Parzinger: Die Digitalisierung muss deutlich verbessert werden. Da ist Deutschland weit zurück. Schnelles und stabiles Internet ist eine Grundvoraussetzung für die Arbeit in ländlichen Regionen. Aber nicht nur müssen sich Kulturschaffende mehr für die Möglichkeit des Arbeitens auf dem Land öffnen, es müssen auch politische Rahmenbedingungen für mehr Kunst und Kultur in der Fläche gesetzt werden. Es braucht ein Umdenken in den Köpfen – auch was die Förderstrukturen anbelangt. Beispielsweise hat das Land NRW das Programm »Dritte Orte« auf den Weg gebracht, um Zentren des Austauschs zu schaffen. Hier stehen vor allem Bibliotheken, aber auch Museen im Fokus. Es braucht mehr davon, um die kulturelle Versorgung im ländlichen Raum sicherzustellen. Da besteht Nachholbedarf. Das zeigt sich auch am Kulturgesetzbuch NRW: Hier finden ländliche Räume kaum Erwähnung. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass die Kultureinrichtungen auch erreicht werden können – heißt, es braucht viel mehr nachhaltige Mobilität in ländlichen Räumen.

Zimmermann: Dem kann ich nur zustimmen. Ich möchte gern noch einen Wunsch hinzufügen: Es geht auch um die Wahrnehmung des Kulturbereiches. Mein Traum wäre es, dass bei der Besetzung der Ausschüsse in einem Gemeinderat nicht die Schlacht um die Plätze im Bauausschuss oder im Finanzausschuss ausbricht, sondern um den Kulturausschuss. Davon sind wir leider noch weit entfernt. Ich würde mir sehr wünschen, dass die Politikerinnen und Politiker erkennen, dass man mit Kulturpolitik viel mehr für seine eigene Region machen kann als in vielen anderen Politikfeldern.

Auch in Zukunft kann die Kultur in ländlichen Regionen sicher nicht ohne das Ehrenamt auskommen.

Zimmermann: Die Pandemie hat riesige Löcher gerissen – nicht nur im Land, auch in der Stadt. Aber auf dem Land sind jahrzehntealte Strukturen ins Wanken geraten. Wir müssen den ehrenamtlich und bürgerschaftlich engagierten Kulturbereich wieder mehr in den Fokus nehmen. Das ist kein spezifisches »Landthema«. Aber in der Fläche wird das Wegbrechen des Engagements noch schneller deutlich.

Rüschoff-Parzinger: Wir haben aus diesem Grund unsere jüngste Kulturkonferenz zu dem Thema ehrenamtliches Engagement im Kulturbereich ausgerichtet. Das Interesse war sehr groß: Es haben über 460 Personen teilgenommen. Wir wollen Antworten, wie ehrenamtliche Strukturen im Kulturbereich weiter unterstützt werden können. Durch die Pandemie ist viel an bürgerschaftlichem Engagement weggebrochen. Wir müssen aufpassen, dass sich dieser Trend nicht weiter fortsetzt. Das ist nicht gut für unsere Gesellschaft und die Kultur. Daran müssen wir arbeiten.

Vielen Dank.