Für die anstehende Saison 2023/2024 hat das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin (DSO) ein neues Motto ausgerufen: »Kein Programm soll es in dieser Spielzeit geben, in dem nicht ein Werk einer Komponistin erklingt.« Denn gerade mal zwei Prozent aller Stücke in Konzerten deutscher Profiorchester stammen derzeit von Frauen. Cornelie Kunkat spricht dazu mit der Leiterin der Künstlerischen Planung Marlene Brüggen und dem Orchesterdirektor Thomas Schmidt-Ott.
Cornelie Kunkat: Welches Erlebnis, welche Beobachtung oder Studie war Anlass für Sie, das neue Motto auszurufen?
Thomas Schmidt-Ott: Der »ausschlaggebende Moment« sitzt da – in Person meiner wunderbaren Kollegin und Leitung der Künstlerischen Planung beim DSO, Marlene Brüggen.
Marlene Brüggen: Bevor ich vor anderthalb Jahren zum DSO kam, habe ich beim Schleswig-Holstein Musik Festival gearbeitet, auch in der Konzertplanung, und habe damals einen Podcast gehört, der von einem Pop-Musik-Festival berichtete, das sich vorgenommen hatte, paritätisch zu gestalten. Daraufhin ging ich ins Büro, schaute auf unsere riesige Planungstafel und bemerkte, dass wir darauf überhaupt nicht geachtet hatten. Bei meinem Bewerbungsgespräch hier gab es dann die Frage: Wie würden Sie das DSO in fünf Jahren ausgestalten? Und da war eine meiner Antworten, dass endlich Komponistinnen bewusst in das Programm aufgenommen werden müssten. Dann habe die Stelle gekriegt und gedacht, warum müssen wir damit noch fünf Jahre warten?
Schmidt-Ott: Genau, deshalb starten wir jetzt. Es ist ein Wagnis, aber gleichzeitig sind wir bereits so stark in dieses Thema eingetaucht, dass ich denke, vielleicht ist es sogar noch nicht genug, nur ein Werk pro Kon-zert zu platzieren. Denn es gibt so viel zu entdecken!
Brüggen: Wenn wir auf diese Weise das Bewusstsein der Zuhörerinnen und Zuhörer tatsächlich erweitern, dann haben wir schon viel erreicht, unabhängig davon, nicht gleich Parität hergestellt zu haben.
Schmidt-Ott: Um nochmal auf das Pop-Festival zurückzukommen: Ich denke, dass wir als Klassikbranche im Kultursektor durchaus mit gesellschaftspolitischen Themen hinterherhinken. Unsere Konzertform ist sehr tradiert, im Gegensatz zu Theater, Museum und Tanz, die bei aktuellen Entwicklungen näher am Puls der Zeit sind.
Ist das DSO mit dem neuen Motto mehr daran interessiert, zeitgenössische Komponistinnen bekannt zu machen oder alte Schätze zu heben?
Brüggen: Wir haben ganz offen programmiert. Wir beginnen bei Hildegard von Bingen, gehen über Louise Farrenc und Lili Boulanger, Ina Boyle und haben auch Zeitgenössisches im Blick wie Anna Clyne, Unsuk Chin oder Jessie Montgomery.
Das klingt spannend. Und gleichzeitig ergreift mich eine gewisse Scham, weil ich als passionierte Konzertbesucherin nicht mehr als drei dieser Komponistinnen kenne.
Schmidt-Ott: Ja, in der gesamten Wertschöpfungskette der Klassik haben sich Frauen aus unterschiedlichen Gründen nicht so durchsetzen können, wie es eigentlich hätte sein müssen: weil es die Protagonisten und Entscheider des patriarchalischen Systems nicht zuließen, die historische Erziehungs- und Bildungssituation der Frauen es nicht erlaubte und ihre Sichtweisen und Werke schlicht nicht wahrgenommen wurden. Deshalb gab es tatsächlich deutlich weniger Frauen, die in der klassischen Musik eine Karriere anstrebten oder sich durchsetzen konnten. Ihr Erfolg wurde von Seilschaften und Netzwerken aus Künstlern, In stitutionen oder Verlagen nicht zugelassen. So schreibt der Vater von Felix Mendelssohn Bartholdys Schwester Fanny seiner Tochter: »Dein Bruder macht die Musik. Für dich ist sie eine Zierde.« Damit ist im Prinzip subsumiert, welche Sichtweise auf Frauen in der Musik vorherrschte. Und bis heute setzt sie sich fort. Zählen Sie gerne mal nach in der Orchesterwelt, wie viele Frauen sind in Führungspositionen, wie viele sind Generalmusikdirektorinnen?
Wir sind gerade mal bei zwölf Prozent, Tendenz leicht steigend.
Schmidt-Ott: Genau, und wie viele Intendantinnen sind an Opernhäusern? Wie viele künstlerische Leitungen sind mit Frauen besetzt? Wie viele Solistinnen sind auf den wichtigen Positionen im Orchester, Solooboe, Soloklarinette, Solotrompete, Solobass etc.? Durchgehend sind Künstlerinnen unterrepräsentiert.
Da haben Sie leider recht. Wie begegnen Sie dem sogenannten Qualitätskriterium, das häufig ins Spiel gebracht wird, um gegen Parität zu argumentieren?
Brüggen: Wir starten eine Entdeckungsreise. Natürlich wird es auch unter den Werken der genannten Komponistinnen Stücke geben, bei denen hinterher womöglich einige unserer Musikerinnen und Musiker sagen: »Puh, was war das denn?« Auf unserer Reise müssen wir einfach mutig sein. Wir werden Tolles entdecken und Werke, die es nicht in den Kanon schaffen. Aber dieses Phänomen erleben wir auch, wenn wir neue Werke von Komponisten aufführen. Gerade vor zwei Wochen äußerten nach einer Aufführung etliche Musikerinnen und Musiker: »Was für ein tolles Stück, von dem müssen wir unbedingt mehr machen.« Und einige andere sagten: »Das hat mir nicht gefallen.« Geschmack ist eben indi viduell und kommt in der Kunst immer zum Tragen. So soll es bleiben dürfen.
Schmidt-Ott: Das Faszinierende ist, dass das Repertoire, das wir im klassisch-romantischen Bereich heute aufführen, also mehr als 50 Prozent unseres Konzertrepertoires, von 15 Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts bestückt ist. Das heißt, 15 Männer definieren mehr als 50 Prozent dessen, was wir im klassischen Konzertsaal hören. Und das schreit nach Handlung. Deshalb bin ich auch so dankbar, dass Frau Brüggen irgendwann gesagt hat, wir nehmen in jedes Programm Komponistinnen auf, nicht nur hier und da. Danach haben wir angefangen, diese Idee mit jeder Agentur, jeder Gastdirigentin und jedem Gastdirigenten zu diskutieren. Das war nicht immer leicht.
Auf Ihrer Webseite fällt auch der Begriff »feministische Programmpolitik«. Wie verstehen Sie ihn im Kontext des neuen DSO-Mottos?
Schmidt-Ott: Wir haben gesagt, wir machen aus der Idee »in jedem Konzert eine Komponistin« ein ganzes Konzept und geben ihm einen dramaturgisch programmatisch philosophischen kulturellen Überbau. Deshalb nennen wir das Motto etwas vollmundig »feministische Programmpolitik«, denn wir möchten dieses Prinzip langfristig auf alle Prozesse dieses Orchesters beziehen. Nur dann sind wir glaubwürdig: Wenn wir alles im DSO, alle Systeme, alle Strukturen, die komplette Aufbau- und Ablauforganisation mit feministisch geschärftem Blick hinterfragen.
Meinen Sie, dass Sie in der Orchesterlandschaft einen Stein ins Rollen bringen? Dass Sie andere Häuser ein bisschen unter Zugzwang setzen, nicht weiterhin Vorwände zu benennen, sondern in ein geschlechtergerechtes Handeln zu kommen?
Brüggen: Vielleicht. Ich war gerade auf dem Deutschen Orchestertag und da habe ich schon gemerkt, dass unser Vorstoß branchenintern die Runde macht – mit unterschiedlichen Reaktionen natürlich. Die stärkere Berücksichtigung von Künstlerinnen ist in den Köpfen vieler Planenden zu finden, aber womöglich nicht so rigoros, wie wir es jetzt vorhaben – wobei auch wir uns noch am Anfang befinden.
Mit welchen tatsächlichen, pragmatischen Hürden müssen Sie sich auseinandersetzen? Gibt es bereits Notensätze der geplanten Werke?
Brüggen: Neue Herausforderungen starten mit Planungsbeginn. Wenn wir über eine von uns viel genutzte Onlinesuchmaschine suchen, welche symphonischen Werke z. B. Pjotr Iljitsch Tschaikowski schrieb oder wie groß die Besetzung von z. B. seiner 5. Symphonie ist. Das funktioniert bei den Frauennamen überhaupt nicht. Da ist Unsuk Chin mit nur sieben Werken vertreten und eine Ina Boyle mit genau einem Werk. Das heißt, wir mussten ganz andere Wege finden, um diese Informationen zu bekommen. Hilfreich ist diesbezüglich das VAN Magazin, ein alternatives, von Hartmut Welscher gegründetes Klassikbranchenheft mit nunmehr rund 240 Porträts von Komponistinnen. Und es gibt zum Glück das fantastische Archiv Frau und Musik.
Haben Sie recherchiert, ob es bereits früher solche feministischen Vorstöße in der Klassikszene gab?
Schmidt-Ott: Ja, ein ähnliches Projekt gab es in den 1980er Jahren in Köln von Eva Weissweiler. Sie hat ein Buch herausgegeben über Komponistinnen der vergangenen 500 Jahre und damit viel Wissen zusammengetragen. In diesem Zusammenhang sagte der ehemalige Musikchef von rbbKultur: »Die Herausforderungen bei solchen Projekten sind die Nachhaltigkeit und die Durchsetzungsfähigkeit« – dass das Einlösen von Parität wirklich zur Gewohnheit wird, wir unseren Blick schärfen und Geschlechterungerechtigkeit wahrnehmen.
Menschen, die dieses Bewusstsein nicht entwickelt haben, erleben solche Vorstöße als Einengung ihrer Normalität und reagieren ablehnend oder diffamierend. Alle diese Reaktionen haben wir erlebt, auch von Frauen.
Aber jetzt sind Sie so weit, dass das Orchester bereit ist, mit Ihnen diese Reise anzutreten?
Brüggen: Ich würde sagen, ja. Auch wenn ein Orchester, ein hundertköpfiges Organ, nicht immer einer Meinung ist. Und natürlich nehmen wir mitunter eine gewisse Skepsis wahr, die wir auch ernst nehmen. Aber das DSO ist seit jeher als Trendsetter bekannt und hat oft versucht, neue Entwicklungen anzustoßen. Hier sehen wir unsere Verantwortung.
Wie reagieren die Gastdirigentinnen und -dirigenten, mit denen Sie zusammenarbeiten?
Schmidt-Ott: Auch sehr unterschiedlich. Man kann es zum Teil an Alter und Generation festmachen. Manche belächeln das Vorhaben mit Kommentaren wie: »Ihr wollt halt auf den woken Zug aufspringen.«
Und gab es auch Reaktionen seitens Ihrer Abonnentinnen und Abonnenten oder der Öffentlichkeit?
Schmidt-Ott: Es gab z. B. einen Shitstorm auf der Facebook-Seite des rbb: über 1.500 unterirdische Kommentare. Manche Menschen schrieben, dass, wenn wir so weitermachen, Deutschland untergeht oder sie auswandern. »Ich kündige mein Abonnement«, war noch das Freundlichste. Insofern gibt es Gegenwind, wobei ich da sage, das ist die Kloake des Internets, unterste Schublade. Aber wir haben das nicht wirklich ernst genommen.
Brüggen: Ich habe mir die Kommentare bewusst nicht durchgelesen. Aber zu solchen Äußerungen, die kritisieren, was wir mit »ihren« Gebühren machen, möchte ich anmerken, dass wir natürlich gerade als Rundfunkorchester gesellschaftspolitische Verantwortung haben und zur Geschlechtergerechtigkeit unseren Beitrag leisten sollten. Wir müssen nicht primär auf Wirtschaftlichkeit schauen und sollten uns deshalb die Freiheit nehmen, Neues auszuprobieren. Gleichzeitig gilt: Was nutzt das schönste Programm, wenn niemand kommt? Deswegen werden wir immer auch darauf achten, dass in unseren Programmen die großen Namen mit drin sind.
Haben Sie bereits Konzepte entwickelt, wie Sie Ihr Publikum auf Ihre Reise mitnehmen wollen?
Schmidt-Ott: Leider können wir es uns nicht leisten, im Vorhinein mehr Marktforschung zu betreiben und Prognosen aufzustellen, wie das Publikum reagiert. Das DSO ist gesegnet, denn nach der Pandemie gingen die Publikumszahlen nicht in den Keller. Insofern müssen wir uns herantasten, gut programmieren und schauen, wie das Publikum die Konzerte annimmt. Eine Herausforderung ist, dass viele Besucherinnen und Besucher gar nicht einschätzen können, was sie am Abend erwartet, weil sie noch nicht einmal die Epoche kennen, aus der Komponistinnen wie Louise Farrenc, Lili Boulanger oder die Zeitgenossin Mozarts und Schülerin von Haydn, Marianna von Martines, kommen. Zu Beethovens Zeit war Martines richtig berühmt, aber wer weiß das schon? Der normale Konzertgänger vermutet möglicherweise moderne Musik und denkt, da gehe ich nicht hin.
Schreiben Sie deshalb im Programm die Jahreszahlen dahinter, als kleiner Trick?
Schmidt-Ott: Nein. Wir werden ein anderes Marketing entwickeln. Wir denken darüber nach, dass wir tatsächlich vor jedem Konzert kurz vor das Publikum treten und das Programm anmoderieren, damit alle wissen, was sie erwartet. Außerdem wollen wir eine Publikation herausbringen, in der wir unser Vorhaben vorstellen und in den größeren Kontext feministischer Außen- und Kulturpolitik stellen. Auch ein Symposium ist in Planung. Wir haben uns vorgenommen, dass wir damit nicht aufhören. Das ist jetzt unsere erste Setzung, aber in der kommenden Spielzeit hört diese Arbeit nicht auf.
Also ein Testballon, der länger fliegen soll?
Brüggen: Das Vorhaben soll einfach zu einem Automatismus werden. Perfekt wäre es, wenn Komponistinnen gar keine Besonderheit mehr sind und ihre Namen Eingang in unseren Kanon finden.
Vielen Dank.