Am 27. November 2023 fand im Berliner Ensemble auf Initiative von Igor Levit und Michel Friedman ein Solidaritätskonzert »Gegen das Schweigen – gegen Antisemitismus« statt: ein Konzert mit viel Prominenz aus verschiedenen Sparten, mit Musik und Lesungen. Barbara Haack spricht darüber mit Oliver Reese und Johannes Nölting.
Barbara Haack: Was wollten Sie mit dem Abend erreichen – und was haben Sie erreicht?
Oliver Reese: Das, was wir erreichen wollten, haben wir erreicht. Wir wollten mit einem von sehr vielen unterschiedlichen Künstlerinnen und Künstlern und deren persönlichen Beiträgen geprägten Konzert ein Zeichen setzen: ein Zeichen »gegen das Schweigen«. Auch wir haben es so wahrgenommen, dass sehr viele Einrichtungen erst einmal in Deckung gegangen sind. Diese Deckung wollten wir aufbrechen. Wir wollten ein Zeichen setzen, dass wir an der Seite der jüdischen Freunde stehen, die geschockt waren von dem Horror, der am 7. Oktober losgegangen ist. Uns ist mit allen Veranstaltungen in diesem Zusammenhang wichtig, den Fokus auf die Konsequenzen solcher weltpolitischen Ereignisse für Deutschland zu richten. Das gilt auch für unsere Reihe »Gaza Talks«: Welche Schwierigkeiten lösen diese Konflikte für die verschiedenen Gruppen hier in Deutschland aus?
Johannes Nölting: Das ist eine neue Aufgabe, die wir jetzt mit den großpolitischen Ereignissen in der Welt erst richtig erkennen und – auch intern – darum ringen, wie unsere Position als Berliner Theater dazu ist. Dieses Motto »Gegen das Schweigen« war keine Anklage an irgendjemanden. Wer, wenn nicht wir als großes Theater in der Mitte der Gesellschaft, hat die Möglichkeit solche Themen aus verschiedenen Perspektiven aufs Tableau zu heben!
Reese: Wir erleben das Theater als einen Ort des gemeinsamen Diskurses über Problemstellungen, die die Gesellschaft akut erschüttern. Theater hat eine große Reichweite auch in sehr verschiedene gesellschaftliche Gruppen hinein. Die Menschen wissen, dass in unserem Spielplan neben den Aufführungen immer auch Diskursformate stattfinden, nahezu tagesaktuell, und dass dadurch immer sehr viele Perspektiven von außen bei uns ein Forum bekommen. Dieses Potenzial nutzen wir.
Das Konzert war nach vier Minuten ausverkauft. Zu einer solchen Veranstaltung kommen in der Regel Menschen, die gleichen Sinnes sind. Wie kann man dieses Zeichen, das Sie setzen wollen, in andere Gruppen hineintragen, die man auch mit diesen Botschaften erreichen will?
Nölting: Es geht bei diesen Konzerten nicht nur um die 700 Menschen, die dort sitzen. Es geht um ein Zeichen! Und die Veranstaltung wurde sehr breit medial wahrgenommen; sie wurde in der ARD Mediathek live gestreamt und im rbb Fernsehen ausgestrahlt. Zudem berichtete unter anderem das heute journal noch am selben Abend. Die Verbreitung passiert auch über die Unterschiedlichkeit der Künstlerinnen und Künstler.
Reese: Gerade deshalb hatten wir auch die Idee, ein Crossover zu machen: Klassik, Pop, Lesung, prominente Menschen – nicht, weil wir so promigeil sind, sondern weil zum Beispiel durch die Mitwirkung der Toten Hosen, Sven Regener oder Joana Mallwitz möglicherweise auch deren Fans sich das anschauen und sich bei der Gelegenheit als »Kollateralgewinn« Dinge mitnehmen, auf die sie sonst nicht gekommen wären.
Sie sagen, Sie wollen niemanden anklagen. Michel Friedman hat aber deutlich erklärt, er sei enttäuscht, weil Theater, Musikhäuser, Literatur nicht die gleiche Empathie gezeigt hätten wie in anderen Fällen. Auf der anderen Seite erklärt Campino im Pausengespräch, niemand müsse sich für seine Sprachlosigkeit, seine Unsicherheit rechtfertigen. Was erwarten Sie von Kulturinstitutionen angesichts dieser Diskrepanz zwischen deutlicher Positionierung und Unsicherheit?
Nölting: Wir machen die Erfahrung: Wenn einer damit anfängt, machen das auch andere Theater. Keiner muss das machen. Aber man kann zeigen, dass es geht und dass es wichtig ist. Und vielleicht machen dann andere mit. Das ist ein wichtiger Teil von Zivilgesellschaft.
Reese: Deswegen werden wir am 4. Juni eine Folgeveranstaltung mit dem Titel »Jede:r ist jemand« machen, unter anderem mit Navid Kermani, Herta Müller, Bettina Wegner, Katharine Mehrling, der Dragqueen Meo Wulf, dem marokkanisch-deutschen Rapper Yonii, Jocelyn B. Smith. Auch da geht es um das Thema Antisemitismus, aber eben darüber hinaus auch ganz bewusst um andere virulente Konflikte: Wie gehen wir damit um, dass sich der Nahostkonflikt in keiner Weise beruhigt und dass auch in Deutschland die Lager weiter auseinanderzubrechen drohen? Unsere Grundhaltung ist eine Offenheit für sehr verschiedene Positionen.
Im Pausengespräch haben Sie Igor Levit gefragt: Was kann die Kunst? Wie zeigt sich das Engagement, das Sie in solchen Sonderveranstaltungen präsentieren, im Programm, auf der Bühne Ihres Theaters?
Reese: Im Spielplan könnte man neben viele Stücke das Thema schreiben, das jetzt eine aktuelle Relevanz hat. Das sähe dann so aus, als wenn wir hier Soziologie oder Politik mit anderen Mitteln machen wollten. Es wäre aber interessant, das mal zu tun. Bei »Vögel« von Wajdi Mouawad ging es zum Beispiel um eine Art Politkrimi, der den Nahostkonflikt in Gestalt einer Geschichte auf der Bühne thematisiert – mit Anklängen an »Nathan der Weise« durch diese unglaubliche Geschichte, dass jemand zwischen arabisch-israelischenWurzeln biografisch hin- und hergeworfen ist. Man könnte auch die Aufführung »Theatermacher« mit Stefanie Reinsperger in der Titelrolle nehmen und »toxische Männlichkeit/MeToo« daneben schreiben. Wenn wir Friedmans »Fremd« auf den Spielplan setzen, dann haben wir damit explizit ein »Coming of Age« als jüdischer Migrant in Deutschland auf dem Spielplan – noch einmal pointiert dadurch, dass Sibel Kekilli mit ihrem türkischen Migrationshintergrund diese jüdische Geschichte verkörpert. Es gibt also eine Vielfalt von Stücken, die ein Interesse an Schauspielerei, Sprache, Geschichtenerzählen haben und gleichzeitig sehr deutlich ein Thema aufgreifen.
Eigentlich müsste der Zuschauer die Themen doch selbst für sich finden? Wenn ich daneben schreibe, was hier gerade verhandelt wird, nehme ich ihm die Möglichkeit für eigene Entdeckungen.
Reese: Natürlich. Nichts ist schrecklicher als Theater mit Gebrauchsanweisung. Ich freue mich als Regisseur immer am meisten, wenn die Zuschauer hinterher von etwas berichten, was sie assoziiert oder was sie mitgenommen haben, woran ich nie gedacht habe.
Nölting: Und das ist auch eine Stärke des Theaters! Sowohl in unseren Diskursveranstaltungen als auch in den Theateraufführungen wird man enttäuscht, wenn man dort Antworten über ein bestimmtes Thema erwartet. Man geht mit mehr Fragen nach Hause als man gekommen ist.
Bei der Veranstaltung »Über Gaza reden« hat man gemerkt: Es ist allerhöchste Zeit und es ist vielleicht gerade noch nicht zu spät. Nur sehr wenige Menschen mit einem palästinensischen Hintergrund wollen noch öffentlich reden, weil es eine so verminte Debatte ist, die allzu oft schon an Begriffen scheitert. Man kann und muss immer bestimmte Begriffe kritisieren, aber komplette Gespräche zu verweigern, ist doch schrecklich. Wir müssen uns aushalten und zuhören. Spätestens seit dem 7. Oktober, wahrscheinlich auch schon früher, müssen wir konstatieren, dass wir viele Perspektiven einfach nicht gesehen haben − vor allem die von marginalisierten Communitys.
Damit droht man viel Vertrauen zu verspielen. Wir müssen Menschen zuhören, die etwas anderes zu erzählen haben. Auch wenn uns etwas irritiert oder fremd ist.
Im Rahmen der Veranstaltung im November hat Dunja Hayali einen Text von Sartre gelesen. Daraus ein Zitat: »Der Antisemit ist ein Mensch, der Angst hat. Nicht vor den Juden, sondern vor sich selbst. Antisemitismus ist die Furcht vor dem Menschsein.« Würden Sie dem zustimmen?
Reese: Ja, ich würde dem zustimmen. An das Wort »Judenhass«, das Friedman schon lange verwendet, musste ich mich erst gewöhnen. Ich habe früher immer gesagt: Das ist so ein krasses Wort, das schockt mich als Begriff. Jetzt ist es gar nicht lange her, dass wir eine Veranstaltung mit diesem Titel »Judenhass« gemacht haben. Und ich muss sagen: Ich verstehe es mittlerweile. Sartre hat sicher recht: Hass kommt oft aus Unsicherheit und aus dem Bedürfnis, sich selbst aus der eigenen vermeintlichen Stärke heraus stärker fühlen zu wollen, sich aufzumanteln in der Abgrenzung gegenüber anderen. Insofern trifft dieses Zitat etwas. Antisemitismus ist eine sehr, sehr hässliche Sache, eine Fratze. Deshalb sind diese Begriffe leider richtig.
Welche Veranstaltungen sind weiter geplant?
Nölting: Wir setzen uns weiter mit Gaza auseinander. Das ist wie gesagt wie eine Art Kontrastmittel für die Spannungen und fehlenden Perspektiven in unserer Gesellschaft. Wir werden in den nächsten drei Monaten mit der palästinensisch-deutschen Journalistin Alena Jabarine eine kleine Reihe mit dem Titel »Gaza-Talks« durchführen. Auch da geht es wieder darum, was das mit unserer Gesellschaft macht. Und was macht es, wie wir miteinander reden? Es ist ein so einschneidendes Erlebnis, für Jüdinnen und Juden genauso wie für Palästinenserinnen und Palästinenser in Deutschland wie auch für Muslime und interessanterweise für ganz viele marginalisierte Communitys. Im Weiteren wird es auch um die Frage gehen, wen dieser Krieg in Gaza und der 7. Oktober wie betrifft und wer sich hier von wem spaltet.
Reese: Mich hat die Auseinandersetzung mit Joe Chialo im Kontext des Versuchs, eine Antisemitismusklausel einzuführen, beschäftigt. Da kam auf einmal auch das Thema Kunstfreiheit auf. Das ist etwas, das wir aufgrund dieser Debatte ganz schnell ins Programm genommen haben: Friedman im Gespräch mit Barrie Kosky. Kosky hat, als jüdischer queerer Künstler in Berlin lebend, international arbeitend, eine ganz andere Meinung als die etwas ängstliche Auffassung, die hier mancherorts zu finden ist, die sich selbst den Mund verbietet, um ja alles richtig zu machen.
Wie stehen Sie zu dieser Klausel, die ja eigentlich eine Antidiskriminierungsklausel ist?
Reese: Ich habe immer sehr deutlich gemacht, dass ich überhaupt kein Problem damit hätte, etwas gegen Antisemitismus zu unterschreiben. Wir haben an unserem Haus seit Jahren einen Code of Conduct eingeführt, in dem ein Verhalten gegen Diskriminierung, gegen Antisemitismus als Grundlage unserer gemeinsamen Arbeit jedem, der hier einen Vertrag unterschreibt, zugesandt wird, damit man weiß, auf welcher Basis wir zusammenarbeiten wollen. Womit ich ein Problem habe, ist, dass die Verpflichtung zur Unterschrift an die Zusage von Geldern gebunden sein soll. Ich unterschreibe herzlich gerne etwas aus eigener Entscheidung. Dann ist es etwas wert. Wenn das alle tun müssen, weil sie sonst kein Geld bekommen, ist es für mich im Kern entwertet. Deswegen bin ich kein Fan einer verbindlichen Klausel.
Vielen Dank.