Das Lautarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin ist dem Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik angegliedert und hat seit Sommer 2022 einen neuen Standort im Humboldt Forum erhalten. Zahlreiche internationale Forscherinnen und Forscher verschiedenster Disziplinen, aber auch interessierte Privatpersonen besuchen das Lautarchiv regelmäßig mit unterschiedlichen Interessen.
Anlässlich der von der UNESCO ausgerufenen Internationalen Dekade der indigenen Sprachen von 2022 bis 2032 ist es an der Zeit, die Bestände des Berliner Lautarchivs einmal daraufhin zu untersuchen, welche der im Lautarchiv aufbewahrten Sprachaufnahmen eigentlich zu den bedrohten oder möglicherweise sogar bereits ausgestorbenen Sprachen gehören.
Es wird vielleicht manche überraschen, aber als »definitely endangered« (»gefährdet«) gilt – laut des von Christopher Moseley 2010 herausgegebenen »Atlas of the World’s Languages in Danger« der UNESCO – das Irische. Am Beispiel der Aufnahme eines irischen Kriegsgefangenen aus dem Ersten Weltkrieg, die sich im Lautarchiv befindet, soll eine Hörperspektive auf Klangaufnahmen von Kriegsgefangenen dargestellt werden, die zwar nicht verallgemeinert werden kann, jedoch von Besucherinnen und Besuchern im Lautarchiv zuweilen eingenommen wird. Zumeist werden die Aufnahmen von Kriegsgefangenen ja – sehr richtig – unter ausgesprochen kritischen Vorzeichen von hiesigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gehört und erforscht, nämlich unter Berücksichtigung der Zwangssituation, in der sie während des Ersten Weltkriegs entstanden. Anders jedoch, allerdings vereinzelt, ist es bei interessierten Personen und/oder Nachfahren aus den Herkunftsländern der Sprecher. Zum Beispiel bei der Anfrage eines Enkels des irischen Soldaten John McCrory, der im Ersten Weltkrieg in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet. McCrory wurde am 24. April 1881 in Belfast geboren. Von Beruf war er Schuhmacher, wenn man der historischen Aufnahmedokumentation, dem sogenannten »Personalbogen«, glauben darf. Die Stimme von John McCrory wurde am 27. September 1917 im Kriegsgefangenenlager Gießen von Wilhelm Doegen aufgenommen, der 1920 das Lautarchiv als »Lautabteilung an der Preußischen Staatsbibliothek« gründete. Doegen beschrieb McCrorys Stimme im schriftlichen Aufnahmedokument als »Dunkle Mittelstimme mit hinreichender Konsonanz«.
John McCrory wählte für die Aufnahme das irische Lied »The Pride of Liscarroll«. Sehr wahrscheinlich eine freie Wahl: kaum vorstellbar, dass die Preußische Kommission ihm dieses Lied vorschlug oder aufdrückte, geschweige denn es überhaupt kannte. Es wurde eine gesungene Version und eine eigens für die linguistische Forschung gesprochene Version des Liedtextes aufgenommen. Dass letztere Version auch existiert, verweist auf eine im Ursprung linguistisch-utilitaristische Motivation der Kommission. Ist ein verengter Fokus auf den bloßen linguistischen Wert ohne kulturhistorische Kontextualisierung heute ethisch vertretbar?
Irisch gehört zu den bedrohten Sprachen. Der Enkel von John McCrory ließ sich nicht auf einen kritischen Diskurs im Hinblick auf die Zwangssituation seines Großvaters in der Kriegsgefangenschaft ein. Ihn interessierte vielmehr neben der Tatsache, dass er die Stimme seines Großvaters hören konnte (der vor seiner Geburt verstorben war), vor allem die Sprache, das Irische, welches heute nur noch von ca. 80.000 Menschen gesprochen wird. Das verweist auf den Wert solcher und anderer Sprachaufnahmen aus dem Berliner Lautarchiv: Nachfahren von Sprecherinnen und Sprechern vom Aussterben bedrohter Sprachen nutzen in vielen Teilen der Welt Audiomaterial der Sprachen ihrer Vorfahren zum Zweck der Erforschung und des Erhalts (vgl. hierzu allgemein auch Moseley 2010).
Wann gilt eine Sprache als bedroht oder ausgestorben? Das zentrale Kriterium ergibt sich aus der Kontinuität bzw. Diskontinuität in der Weitergabe durch die Generationen. Die im Folgenden vorgenommenen Einordnungen entsprechen den Gefährdungsstufen, wie sie von Moseley im »Atlas of the World’s Languages in Danger« der UNESCO aufgestellt worden sind. Andere Klassifikationen von Gefährdungsstufen unterscheiden sich hiervon marginal, wie etwa diejenige im »Ethnologue« (M. Paul Lewis 2009) oder die »Liste bedrohter Sprachen« auf Wikipedia. Entscheidend ist hier nicht eine akademische Diskussion, welche der Klassifikationen »richtig«, »besser« oder »falsch« ist. Das führt zu keinem Ende. Vielmehr wird die Einordnung der im Lautarchiv dokumentierten Sprachen mittels der dem Verfasser am plausibelsten erscheinenden Klassifikation durchgeführt. Dabei soll lediglich eine Aufzählung darüber gegeben werden, welche Sprachen sich im Berliner Lautarchiv unter den Kriegsgefangenenaufnahmen befinden, die heute vom Aussterben bedroht sind. Moseley unterscheidet zwischen:
- potenziell gefährdet, d. h. die meisten Kinder einer Community sprechen zwar die Sprache ihrer Eltern und Großeltern als Muttersprache; dies kann aber bereits auf die häusliche Kommunikation zwischen Kindern, Eltern und Großeltern beschränkt sein;
- gefährdet, d. h. Eltern und Großeltern sprechen die bedrohte Sprache noch; gelegentlich werden die Kinder auch noch in dieser Sprache angesprochen; diese antworten jedoch nicht in der bedrohten Sprache, sondern in einer in der Gesellschaft sich allgemein durchsetzenden Sprache;
- ernsthaft gefährdet, d. h. nur noch die Großeltern oder noch ältere Generationen sprechen die bedrohte Sprache; die Eltern verstehen diese Sprache zwar noch, verwenden sie aber nicht mehr in der Kommunikation miteinander oder mit ihren Kindern;
- moribund, d. h. die Sprache wird nur noch in der Generation der Urgroßeltern erinnert; sie wird auch nicht mehr in der Alltagskommunikation verwendet, sondern nur noch fragmentarisch in das Sprechen eingeflochten (vgl. hierzu Moseley 2010).
Der Versuch einer Unterscheidung zwischen Sprache und Dialekt ist laut Moseley nicht in jedem Fall klar lösbar (Moseley 2010). Sie ist sogar insofern prekär, als dass die Bezeichnung »Dialekt« kontextuell häufig einen abwertenden Zungenschlag hat, was den Versuch einer Unterscheidung fragwürdig macht. Der Begriff »Dialekt« legt sprachlicher Diversität eine gewisse konstruierte Hierarchie zugrunde. Als Gesamtanzahl der während des Ersten Weltkrieges von Wilhelm Doegen aufgenommenen »Sprachen und Dialekte« (Doegen zählte die Bereiche zusammen) gab dieser etwa 215 an. Klangdokumente von bereits ausgestorbenen Sprachen befinden sich nicht im Bestand der Kriegsgefangenenaufnahmen des Lautarchivs.
Hier sollen einmal alle Sprachaufnahmen – ohne die wertende Unterscheidung zwischen Sprache und Dialekt zu machen – aufgelistet werden, die heute im Lautarchiv aufbewahrt werden und gemäß dem »Atlas of the World’s Languages in Danger« der UNESCO als gefährdet gelten: Baskisch (potenziell gefährdet), Bretonisch (ernsthaft gefährdet), Champagnisch (ernsthaft gefährdet), Emilianisch (gefährdet), Franko-Provenzalisch (Arpitanisch) (gefährdet), Friaulisch (gefährdet), Gaskognisch (ernsthaft gefährdet), Irisch (gefährdet), Jiddisch (gefährdet), Korsisch (gefährdet), Languedokisch (ernsthaft gefährdet), Limousinisch (ernsthaft gefährdet), Ersjanisch-Mordwinisch (gefährdet), Mokscha-Mordwinisch (gefährdet), Normannisch (ernsthaft gefährdet), Okzitanisch (Auvergnatisch) (ernsthaft gefährdet), Picardisch (ernsthaft gefährdet), Piemontesisch (gefährdet), Rätoromanisch (gefährdet), Romagnol (gefährdet), Romani (gefährdet), Sizilianisch (gefährdet), Tatarisch (ernsthaft gefährdet) und Walisisch (potenziell gefährdet). Es fällt unmittelbar ins Auge, dass in der Lautarchiv-Sammlung zahlreiche europäische Sprachen aufbewahrt werden, die vom Aussterben bedroht sind. Demgegenüber scheinen Sprachen, die von Sprechern etwa aus afrikanischen Ländern eingesprochen wurden, in ihrer lebendigen Tradition viel konsistenter zu sein. Sie erscheinen daher in dieser Auflistung nicht. Zu berücksichtigen ist selbstverständlich, dass der für diese Liste zu Rate gezogene Atlas bereits 14 Jahre alt ist und Daten sich jederzeit – auch bei aktuellsten Erhebungen – relativ schnell ändern können (vgl. hierzu auch Moseley 2010).
Umso wertvoller sind die auf Schellackplatten festgehaltenen Aufnahmen aus dem Berliner Lautarchiv, von dem hier ein Ausschnitt aus »The Pride of Liscarroll« abschließend einmal ausführlicher wiedergegeben werden soll:
»In my native home Liscarroll
There lives a Colleen who is blind
And her Name is Kitty Farrell
To her the neighbours are all kind.
See her knit beside her Mother
You ne’er would think her sight was gone
and with Barney her young Brother
She milks the cows at early dawn.
She is the Pride of Liscarroll. […]«
Was bleibt, ist der wunderschöne, leicht melancholische Sprachton, gesungen von John McCrory, der von jeder interessierten Person im Lautarchiv angehört werden kann. Der Enkel von John McCrory hatte jedenfalls keine Einwände gegen eine bloße Fokussierung auf die Sprachästhetik. Aus hiesiger Sicht erscheint eine Kontextualisierung des Zwangskontextes der Entstehung der Aufnahmen ein Muss zu sein. In der Archivpraxis begegnen uns jedoch nicht selten Positionen von Nachfahren gerade aus den Herkunftsländern der Soldaten, die den bloßen Wert der Tatsache schätzen, ihre Sprache zu hören, wie sie vor mehr als 100 Jahren gesprochen worden ist.