Es verschlägt einem schon den Atem, in welchem Tempo der Großteil unserer politischen Eliten plötzlich bereit ist, nach dem feldgrauen Mantel der Geschichte zu greifen. Und die Summen, die jetzt für die Kriegstüchtigkeit zur Verfügung stehen, lassen uns schwindelig werden. Die Notwendigkeit ist leider kaum zu bestreiten, die Bedrohungslage erschreckend real. Und womöglich werden wir eines Tages noch froh sein, dass sich eine alte, abgewählte Mehrheit im Bundestag noch einmal zusammengefunden hat, der Armee solche Spielräume zu verschaffen.

Aber wir sollten darüber nicht jubilieren. Ein gesellschaftlicher Ruck ging nicht davon aus. Nach der Abstimmung gab es lange Gesichter und die Kollateralschäden sind nicht gering. Die Maastrichtkriterien sind jetzt endgültig Makulatur geworden. Und das Vertrauen der Wähler in die Politik hat zusätzlich Schaden genommen. Die politische Klasse hat weniger ihre Handlungsfähigkeit bewiesen als ihr Talent, sich die Dinge schon irgendwie zurechtbiegen zu können. Zumal die abgewählte Mehrheit der Abgeordneten nicht mehr der erklärten Mehrheit im Lande entsprach. Über die neue Regierungskoalition hat sich ein großer Schatten gelegt, noch bevor sie ins Leben eintreten konnte. Top down wurde wieder entschieden, was am Ende alle betrifft. Es ist deshalb kein Zufall, dass die Coronapandemie gerade jetzt ins Blickfeld gerät. Auch damals hatte die nicht zu leugnende Bedrohungslage alle grundsätzlichen Bedenken hinweggefegt.

Aber die Wiederholung einer solchen Erfahrung ist toxisch für unsere Demokratie. Sie trifft sie an ihrer empfindlichsten Stelle: an der lange Zeit geltenden Überzeugung, dass unsere Demokratie selbstverständlich eine liberale sein muss. Autokraten wie Viktor Orban haben das immer bestritten. Aber auch bei uns beginnt man die Zweifel zu hören. Erschreckend viele Wähler nehmen inzwischen ihre demokratischen Rechte wahr, um sie gegen die liberale Ordnung zu kehren. Die Polarisierung in unserem Land trägt längst keine akzidentellen Züge mehr, sie scheint längst systemisch zu werden. Und sie hat die Parlamente erreicht; jenen Ort in der repräsentativen Demokratie, wo die konkurrierenden politischen Kräfte sich um den Ausgleich bemühen sollten. Mehrheit und Minderheit bezeichnen eben nur wechselnde Rollen. Doch der Demokratiefraß hat unsere Institutionen erreicht. Man kann in den Vereinigten Staaten sehen, wohin eine solche Spaltung führt. Die Lager dort haben sich dramatisch verhärtet und sich definitiv voneinander abgekehrt. Der Vorgang ist oft genug beschrieben worden. Die freiheitliche Gesellschaft hat ihre Diskursfähigkeit eingebüßt. Und seitdem wird heftig darüber gestritten, wie man sie wieder erlangen kann.

Vielleicht hilft in diesen Tagen, in denen wir des Kriegsendes und des völligen moralischen und staatlichen Zusammenbruchs unseres Landes vor 80 Jahren gedenken, ein Blick zurück in den Neubeginn unserer Demokratie. Sie war von Anfang an eine umhegte. Man hat sich angewöhnt, diese Zeit als die dunklen Jahre zu sehen, in die erst mit den rebellischen Achtundsechzigern das nötige aufklärerische Licht gefallen sei. Verdrängen, verleugnen, verschweigen, war der Vorwurf an die Generation der Väter und Mütter. »Vergangen, vergessen, vorüber«, hieß der Schlager von Freddy Quinn. Dagegen liefen die Söhne und Töchter in den 1960er Jahren Sturm. Sie wollten sichtbar machen, was unsichtbar geblieben war und die biografische und ideologische Kontinuität entlarven, die im Zwielicht der Aufbaujahre überdauert hat. Damals ist jene Hermeneutik des Verdachts entstanden, die unser Verhältnis zur Vergangenheit bis heute bestimmt.

Der Sozialphilosoph Hermann Lübbe hat dagegen den Begriff des »kommunikativen Beschweigens« in Stellung gebracht. Ohne die Übereinkunft, die Vergangenheit ruhen zu lassen, wäre der neue Umgang zwischen den Überlebenden, den Opfern wie den Tätern, kaum möglich gewesen. Man sollte die Täter eben nicht etikettieren, das habe ihnen den Gesinnungswandel erlaubt. Lübbes These war schon damals äußerst umstritten und passt auch nicht wirklich auf unsere Zeit. Trotzdem räumen selbst ihre Kritiker mittlerweile ein, dass die erstaunliche Integrationsleistung der Nachkriegsjahre ohne dieses Beschweigen kaum möglich gewesen wäre.

Der Historiker Arnulf Baring erzählte gerne aus den Anfangsjahren des Friedrich-Meinecke-Instituts der Freien Universität in Berlin, wo die Rückkehrer aus der Emigration auf die Dagebliebenen trafen. Fast jeder, so Baring, wusste vom Werdegang des anderen. Thematisiert hat man das offenbar nicht. Es war der stillschweigende Versuch, das Gespräch über die Gräben wieder zu finden, so paradox das für unsere Ohren auch klingt.

Wie das überhaupt gelingen konnte, hat der Publizist Thomas Wagner jetzt an der Begegnung von Adorno mit Arnold Gehlen beschrieben. Aus tiefer Ablehnung erwuchs Neugier. Im Falle der beiden sogar großer Respekt. Man wird das auf unsere Zeit als Muster nicht übertragen können. Die Appelle helfen da nicht. Aber wir sollten in einen gemeinsamen Diskursraum zurückkehren wollen. Was eine kulturelle Herausforderung wäre. Für die politische ist es offenbar noch zu früh.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2025.