Das Projekt »Dekoloniale« führt von 2020 bis 2024 ein von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Kultureinrichtungen des Landes Berlin getragenes Recherche-, Ausstellungs- und Veranstaltungsprogramm zum Thema Kolonialismus und postkoloniale Gegenwart durch. Sandra Winzer spricht mit Nadja Ofuatey-Alazard, die den Teilbereich »In[ter]ventionen« leitet, und mit Tahir Della, der das Projekt mit Schwerpunkt Museumsberatung und Kooperationen begleitet.

Sandra Winzer: Frau Ofuatey-Alazard, am Beispiel Berlins erprobt das Projekt modellhaft, wie eine Metropole und ihr Raum, ihre Gesellschaft und Institutionen auf (post-)koloniale Wirkungen hin untersucht werden können. Bitte beschreiben Sie kurz – worum geht es Ihnen vor allem?

Nadja Ofuatey-Alazard: Die Vorgeschichte des Projekts beginnt 2018. Wir drei zivilgesellschaftlichen Organisationen – Berlin Postkolonial, Each One Teach One (EOTO) und die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) – haben uns über Monate hinweg in regelmäßigen Workshops gefragt: Wie lässt sich eine Dekolonisierung des öffentlichen Raums denken und abbilden? Das Thema »Deutscher Kolonialismus« sollte in seinen transnationalen Verschränkungen und seinen zeitgenössischen Nachwirkungen vermittelt werden –niedrigschwellig und nah am Leben der Menschen in Berlin.

So kamen Sie auf die einzelnen Teilbereiche wie »Dekoloniale Interventionen« und einen Projektraum in der Wilhelmstraße. Wofür stehen diese Teilbereiche?

Ofuatey-Alazard: Sie stehen für unterschiedliche Formate. Bei »Geschichte[n]« geht es um unsere digitale, »gesüdete« Weltkarte, auf der »Touren« entstehen: miteinander verwobene Narrative aus Texten, Bildern und Videos über die koloniale Vergangenheit in Verbindung zu Berlin. Kartiert werden historische Ereignisse, Widerstandsgeschichte und Biografien von Menschen, die in Geschichtsbüchern oder Mainstreammedien bislang kaum vorkommen.

Der Bereich »In[ter]ventionen« befasst sich mit diskursiven und performativen Formaten. Ich verantworte ihm mit meinem Team. Hierzu zählt unter anderem das alljährliche Dekoloniale-Festival. Es fungiert insbesondere als Schaufenster für das Projekt. Auch eine jährliche Residenz für Künstlerinnen und Künstler gehört zu diesem Bereich. Wir laden Gäste für knapp drei Monate nach Berlin ein, ihre Projekte im öffentlichen Raum umzusetzen.

Im Bereich »[Re]präsentationen« gibt es jedes Jahr in diesem Bereich eine Kooperation mit einem Berliner Bezirksmuseum. Bislang gibt es die Dauerausstellung »zurückgeschaut | looking back« in den Bezirksmuseen Treptow-Köpenick. Sie widmet sich der sogenannten kolonialen »Völkerschau«, die im Rahmen der Gewerbeausstellung von 1896 stattfand. Am Karpfenteich wurden damals Menschen aus den ehemaligen deutschen Kolonien in einer Art kolonialer Fantasiehabitat wie in einem Zoo ausgestellt. Unsere Ausstellung versucht, den damals dort zur Schau gestellten Menschen ihre Würde zurückzugeben. Dieses Jahr, 2022, kooperieren wir im Berliner Süden mit dem Friedrichshain-Kreuzberg Museum. Die Ausstellung dort trägt den Titel »TROTZ ALLEM« und legt den Fokus auf die Migration in die Kolonialmetropole Berlin. Nächstes Jahr werden wir mit dem Bezirks-Museum in Charlottenburg im Berliner Westen kooperieren und im Abschlussjahr 2024 gibt es im Norden eine Ausstellung.

Der Bereich »Entwicklungen« hat sich aus einem Bedarf heraus entwickelt: Seit Projektstart 2020 baten uns viele kleine und große Museen um Austausch oder Kritik zu ihren jeweiligen Ausstellungen, Sammlungen, Texten zum Thema Dekolonisierung. So kam die »Kompetenzstelle Dekolonisierung« hinzu. Sie setzt den Fokus auf die Zusammenarbeit beispielsweise mittels Runder Tische.

Herr Della, warum war die Entstehung des Modellprojekts aus Ihrer Sicht wichtig?

Tahir Della: Die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte ist ein allumfassendes Querschnittsthema. Es zieht sich durch alle gesellschaftlichen Bereiche: Justiz und Soziales, Medizin, Flucht, Politik und Klima – um nur einige zu nennen. Unser Ansatz war es, ein Aufarbeitungsprojekt für die Stadt Berlin zu erschaffen in Bezug auf seine eigene koloniale Geschichte. Nun liegt der Schwerpunkt des Projekts auf dem Kulturbereich. Er macht deutlich, wie stark auch dieser Bereich von Kolonialität geprägt ist.

Es darf nicht darum gehen, dass sich Verwaltung oder Politik ein solches Projekt allein auf die Fahnen schreiben, sondern, dass die Zivilgesellschaft eingebunden wird.

Auf der Webseite des Projekts fand ich ein schönes Zitat Ihrer Absichten: Sie wollen zeigen »wie Unsichtbares erfahrbar gemacht und Sichtbares irritiert werden kann«. Würden Sie sagen, das gelingt?

Ofuatey-Alazard: Hier kann ich ein Beispiel aus der Ausstellung in Treptow-Köpenick bringen. Koloniale Sprache und auch Bilder sind von Rassismen gewalthaft durchzogen. Das Ausstellungsteam hat solche Exponate identifiziert und durch unterschiedliche Maskierungen markiert. »Masken«, die das Entziffern oder Erkennen erschweren und den Blick brechen. Die Besucherinnen und Besucher müssen sich diese Inhalte mühevoller und bewusster erarbeiten.

Ein Beispiel für »Irritationen« sind auch unsere Künstlerinnen und Künstler, die im Stadtraum ihre Interventionen platzieren. Zwei Gastkünstlerinnen, die Architektin Maya Alam und die bildende Künstlerin Vitjitua Ndjiharine, stellten etwa eine Installation vor den Gropiusbau in Berlin, die aus riesigen Fahnen und einer Sprayinstallation bestand. Menschen, die als Kolonialmigrantinnen und -migranten in Berlin gelebt und gewirkt haben, waren auf den Flaggen zu sehen. Das Gras um die Fahnenstangen herum wurde mit grellen Neonfarben markiert, die auf einem codierten »Fußabdruck« des ethnographischen Museums basierten, das dort gestanden hatte. Das war ein Ort, der auf spektakuläre Art den gewohnten Blick bewusst irritiert hat.

Della: Ein weiteres Beispiel sind Straßennamen. Jene, die rassistisch sind oder koloniale Verbrecher ehren. Mit einer Art Straßenfest-Kundgebung haben wir gefragt, wie solche Straßen künftig zu benennen seien. Aus der »M-Straße« in Berlin wird nun die »Anton Wilhelm Amo«-Straße. Amo war einer der ersten bekannten afrikanischen schwarzen Professoren hier in Deutschland. Viele Menschen sind zunächst verwirrt, wenn hier ein Namenswechsel vorgenommen wird. Doch Irritation ist notwendig, um uns von dem kolonialen Erbe zu befreien. Wir müssen uns eine neue Brille aufsetzen, durch die wir den öffentlichen Raum und die Gesellschaft betrachten. Dann können wir sie neu organisieren.

Sie richten sich mit »Dekoloniale«, so sagen Sie, an eine breite und diverse Stadtgesellschaft, von der Sie sich auch Beteiligung wünschen. Wie kann eine solche Beteiligung aussehen?

Ofuatey-Alazard: Wir gestalten das vor allem über Kooperationen mit Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in der Stadt. Beispielsweise mit den Bezirksmuseen oder dem Technikmuseum – neben einer großen Intervention in der Schifffahrtsabteilung haben wir eine Publikation mit dem Titel »Das Museum dekolonialisieren?« begleitet. Außerdem haben wir im Rahmen einer gemeinsamen Stadttour mit dem Berliner Kurzfilmfestival zusammengearbeitet. Wir unterstützen das »M-Straßen-Umbenennungsfest«, bieten Stadtführungen für unterschiedliche Zielgruppen an und kuratieren die Denkwerkstätten mit externen Partnerinnen und Partnern.

Bedeutet, es geht Ihnen um das Zusammenkommen vieler für ein großes Thema?

Della: Auch, ja. Wir laden aber auch aktiv Akteurinnen und Akteure ein, bei unserem Projekt mitzumachen. Das Interesse an dem Thema wächst kontinuierlich. Es wird deutlich, dass eine Anbindung an eine Institution wie die »Dekoloniale« hilfreich ist. Das Interesse an Führungen in Museen nimmt zu, die Aufklärung an Schulen – so kann Beteiligung auch aussehen. Das Projekt wirkt wir ein großer Rahmen für das Thema Dekolonialisierung.

Welches Fazit ziehen Sie aus der »Dekoloniale« – was könnte besser funktionieren, was lief bislang besonders gut?

Ofuatey-Alazard: Wie bei jedem anderen Projekt stand erst einmal das Teambuilding an – mittlerweile haben wir ein sehr gut funktionierendes Team aus erfahrenen und jüngeren Kolleginnen und Kollegen gleichermaßen. Stolz sind wir auch auf die vielen Einzelprozesse mit zivilgesellschaftlichen Partnerinnen und Partnern sowie mit Mainstream-Institutionen. Vor allem bei Letzteren kann es Reibungspunkte aufgrund unterschiedlicher Weltsicht- und Arbeitsweisen geben. Das aber miteinander auszuhandeln und am Ende zu integrieren ist für uns spannend. Schwierig war die Zeit der Pandemie. Sie hat unserem Projekt ein Bein gestellt. Wir mussten viele Hybridveranstaltungen planen oder ganz aufs Digitale umschwenken.

Della: Für mich zählt vor allem, dass bei dem Modellprojekt die finanzielle Rahmung nicht das Ganze sein kann. Für die Zukunft würde ich mir wünschen, dass solche Mittel Teil des Bundeshaushaltes werden – im Sinne von institutioneller Förderung. Es ist kein Prozess, der innerhalb der fünf Projektjahre abgehandelt werden kann. Wir können nur anstoßen und auf ein gemeinsames Verständnis am Ende hoffen. Wir brauchen aber auch danach Debatten, die ins Eingemachte gehen. Gesellschaftliche Strukturen können nicht so bleiben, wenn wir wirklich von einer dekolonisierten Gesellschaft sprechen wollen. Da haben wir noch einiges vor. Ich bin aber zuversichtlich, denn die politische Bereitschaft wächst bei den Parteien und auch bei den einzelnen Institutionen.

Noch zwei »Dekoloniale«-Projektjahre liegen vor uns. Was wünschen Sie beide sich für diese Zeit, was fordern Sie?

Ofuatey-Alazard: Nachhaltigkeit ist mir besonders wichtig. Wir wünschen uns eine Konkretisierung, was die Debatte um Erinnerungsorte in Berlin angeht – Berlin als Hauptstadt des deutschen Kaiserreichs und damit als politisches Machtzentrum des deutschen Kolonialismus. Es geht darum, Dekolonisierung und Kolonialismus als Querschnittsthemen zu setzen. Das impliziert auch einen notwendigen politischen Strukturwandel beispielsweise am Beispiel der Einreisepolitik: Visa-Verfahren für Menschen aus dem »Globalen Süden« etwa sind ungemein schwierig bis unmöglich. Menschen, die wir etwa aus den ehemaligen deutschen Kolonien nach Berlin zum Dekoloniale Festival einladen, müssen extrem hohe bürokratische Hürden überwinden. Hier ist die Bundesregierung doppelzüngig: Einerseits spricht sie sich für eine Intensivierung des transnationalen Austauschs aus, andererseits behindert sie die Einreise vieler Kulturschaffender.

Della: Die Dekoloniale hat erreicht, dass das geflügelte Wort »Dekolonisierung« mit Inhalten gefüllt werden kann. Offen ist jedoch noch, wo wir als Gesamtgesellschaft landen wollen. Dazu zählt, wie Frau Ofuatey-Alazard es betont, dass Visa-Vergaben nicht zu schwierig sind. Wir als »Globaler Norden« sollten nicht versuchen, den Prozess unter uns auszumachen, sondern gemeinsam mit den Perspektiven der Menschen im »Globalen Süden«, die am unmittelbarsten davon betroffen waren. Wir wollen sie in unser Projekt einbeziehen. Das funktioniert nur, wenn wir praktische Lösungen finden und z. B. Visa schnell und unbürokratisch ausstellen, sodass Menschen, die eingeladen werden, auch zügig und einfach einreisen können. Dass sie nicht etwa bis einen Tag vor der Einladung warten müssen, ob sie nun einreisen dürfen oder nicht.

Ofuatey-Alazard: Abschließend wünsche ich mir auch eine wirkliche Klärung des Begriffs Dekolonisierung. Sie darf nichts sein, was an der Oberfläche von Formaten abgehandelt wird. Eine nachhaltige Dekolonisierung würde einen Wandel in den Strukturen bedeuten. Unter Beteiligung von Menschen, die Erfahrungen mit dem deutschen Kolonialismus und seinen Nachwirkungen gemacht haben. Das bedeutet einen Wandel in der politischen Kultur, in der Bildungspolitik, im Kulturbetrieb wie auch den politischen und ökonomischen Strukturen. Wir wollen einen wirklich konzertierten Kraftakt, um das Ganze strukturell verankert anzuerkennen – als Voraussetzung einer möglichen Transformation.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2022 – 1/2023.