Die Alte Synagoge Essen ist ein kulturelles Kleinod. Als größte freistehende Synagoge nördlich der Alpen ist sie eines der bedeutsamsten Zeugnisse jüdischer materieller Kulturen in Europa. Würde man eine Biografie der Synagoge schreiben, so müsste man ihr wohl mindestens »vier Leben« zusprechen. Eingeweiht im Jahr 1913 diente sie bis zu ihrer Zerstörung einer großen, kaiserzeitlichen Gemeinde als Ort des Gebets, des Lernens und der Musik. Sie beherbergte die imposanteste Orgel Essens, für die durch den Kantor der Gemeinde eigens Werke komponiert wurden. 1.500 Menschen fanden im Hauptraum Platz, doch feierten darüber hinaus auch jüdische Migrantinnen und Migranten aus Osteuropa ihren Gottesdienst nach orthodoxem Ritus – in der kleinen, im Erdgeschoss gelegenen Wochentags-Synagoge.
Die äußere Hülle der Essener Synagoge überstand die Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 zum größten Teil – dank ihrer Stahlbetonkonstruktion. Während wenige Jahre später, von 1943 bis 1945, durch Bombardierungen beinahe die gesamte Innenstadt zerstört wurde, blieb sie als eines der wenigen Gebäude erhalten. Eindrücklich zeigt ein Foto der Nachkriegszeit ein verwüstetes Essen, aus dessen Schutt sich die Synagoge vollständig abhebt.
Eine zweite einschneidende Phase begann im Jahr 1959, als die Stadt das Haus erwarb. Die Essener Nachkriegspolitik, für jüdische Belange nicht sensibilisiert, baute den Innenraum für eine Industrieausstellung um – und zerstörte dabei alles, was noch von der synagogalen Gestaltung erhalten geblieben war. Die 1980er Jahre schließlich brachten, wie überall in Deutschland, ein neues Verständnis für Aufarbeitung, Erinnerung und Verantwortung mit sich. Damit einher ging eine Debatte, die in der Umwidmung und -gestaltung des Hauses zur Gedenkstätte mündete sowie einer teilweisen Rekonstruktion des Hauptraumes. Nach einem erneuten inhaltlichen Richtungswechsel und einer Überarbeitung der Ausstellung ist die Alte Synagoge seit 2010 ein »Haus jüdischer Kultur«. Nicht länger allein auf den Aspekt der Vernichtung und Zerstörung fokussiert, präsentiert sie gegenwärtiges jüdisches Leben und jüdische Kulturen. Daneben beherbergt sie ein umfangreiches Archiv, das wertvolle Dokumente, Fotografien und Interviews zur Geschichte jüdischen Lebens in Essen birgt.
Mit ca. 25.000 Besucherinnen und Besuchern im Jahr und 9.000 Schülerinnen und Schülern im Rahmen des Bildungsprogramms ist die Alte Synagoge ein zentraler Aspekt der städtischen und weiteren Ruhrgebietsidentität geworden. Als Museum, Veranstaltungs-, Bildungs-, Begegnungs- und Erinnerungsort bietet sie Raum und Forum für ein breites Spektrum an Themen und Aufgaben.
Zu den hohen Feiertagen ist die jüdische Gemeinde zu Gast, aber auch jenseits des organisierten religiösen Lebens hat die Alte Synagoge eine Bedeutung für jüdische Menschen, gerade auch für jüngere Jüdinnen und Juden des Ruhrgebietes. Sie ist ein Ort, der durch den Raum an sich und durch seine kulturellen Angebote Identifikationsmomente schafft und Verbindung mit dem eigenen, wie auch immer definierten und gestalteten »Jüdisch-Sein« ermöglicht.
Von 2024 bis 2026 erwarten Besucherinnen und Besucher zwei kleinere temporäre sowie eine große Jahresausstellung. Mit der Ausstellung »Freiheitskoffer«, die am 17. November 2024 eröffnete, steht die jüdische Migration von Menschen ins Ruhrgebiet nach 1990 aus den ehemaligen Ländern der Sowjetunion im Fokus. Mit Era Freidzon kuratiert eine Künstlerin, die sich aus der Innenperspektive der eigenen Migrationserfahrung – von Chisinau (Moldawien) über St. Petersburg in das Ruhrgebiet – dem Thema nähert und den Stimmen jüdischer Menschen und ihren Erfahrungen viel Raum gibt.
Am 30. März 2025 schließlich eröffnet die Alte Synagoge ihre Jahresausstellung »Green Jews. Umweltschutz und Judentum«. Kuratiert wird sie von der jüdischen Künstlerin Anna Adam, die eine der Leiterinnen der »green shul« (Umweltsynagoge) Ohel Hachidusch ist. Die Ausstellung in neun Stationen bringt dieses Thema zum ersten Mal in ein jüdisches Museum in Deutschland. Über innerjüdische Quellen von der Antike bis ins 21. Jahrhundert, aber auch auf sehr sinnlich erfahrbare Art und Weise werden jüdische Konzepte, Ideen und Antworten auf die große Frage des Verhältnisses von Mensch und Umwelt verhandelt.
Der Herbst 2025 steht dann im Zeichen einer großen Essener Jüdin – Dore Jacobs. Als bedeutende Bewegungslehrerin und Reformerin stand sie für eine neue Kultur der Körper und kehrte als eine der wenigen überlebenden Essener Jüdinnen nach dem Krieg zurück, um ihre Tätigkeit fortzusetzen. Im Rahmen des NRW-weiten Programms wird die Alte Synagoge in Verbindung mit ihrem Namen zum »Frauenort«.
Allen diesen Ausstellungsprojekten ist gemein, dass sie eine spezifisch jüdische Erfahrung umfassend durch Innenperspektiven und einen wissenschaftlichen Ansatz ausloten. Gleichzeitig aber stehen Brückenphänomene wie Migration, Umwelt oder Körpererfahrung im Vordergrund, die für alle Besucherinnen und Besucher anschlussfähig sind.
Formate, die 2024 bereits eingeführt wurden, wie die Jüdischen Literaturtage Essen (2025 zur jüdischen Graphic Novel) oder die Queer Jewish Days werden neu aufgelegt, und 2025 bis 2026 erwartet die Zuhörerinnen eine spektakuläre Spielzeit zu jüdischer Musik – dem Themenschwerpunkt in Zusammenarbeit mit Theater und Philharmonie Essen.
Beginnend im kommenden Jahr wird die Alte Synagoge schließlich im wahrsten Sinne des Wortes neue Wege gehen, in dem sie die aufsuchende Arbeit aufnimmt. Als Reaktion auf die zunehmende Weigerung von rund 24 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner NRWs, eine Synagoge zu betreten, braucht es neue Formen der Ansprache und des Angebots. Wir hoffen, damit ein Modellprojekt aufbauen zu können, das die Vermittlung jüdischer Themen zugänglicher und nahbarer macht.