In Deutschland leben rund 1,2 Millionen Menschen mit einer Sehbehinderung. Jährlich erscheinen ca. 70.000 bis 85.000 Bücher neu – nur ungefähr zwei Prozent davon werden über Sonderproduktionszentren in blinden- und sehbehindertengerechte Formate umgewandelt. Diese Zahlen machen es mehr als deutlich: Es besteht dringender Handlungsbedarf, um mehr Barrierefreiheit beim Lesen zu garantieren. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels hat dafür eine Taskforce Barrierefreiheit gegründet. Kristina Kramer berichtete bereits in Politik & Kultur 9/21 darüber – und gibt nun, ein knappes halbes Jahr später, Theresa Brüheim ein Update. 

Theresa Brüheim: E-Books und E-Reader müssen ab Juni 2025 barrierefrei sein. Grundlage ist der European Accessibility Act, der bereits im Mai letzten Jahres in Deutschland als Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) umgesetzt wurde. Was hat sich seitdem getan?  

Kristina Kramer: Im Börsenverein haben wir noch vor der Umsetzung des European Accessibility Act (EAA) ins deutsche Gesetz eine Taskforce Barrierefreiheit gegründet. Die Taskforce ist länderübergreifender besetzt: Deutschland, Österreich und die Schweiz sind vertreten. Dadurch können wir bei dem Thema den gesamten deutschsprachigen Buchmarkt im Blick haben, und zwar entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Uns war es zudem besonders wichtig, die gute Zusammenarbeit mit dem Deutschen Zentrum für barrierefreies Lesen (dzb lesen) auch beim Thema digitale Barrierefreiheit fortzusetzen und auszubauen. Aber auch andere, sehr aktive Mitglieder wie Blista, Medibus und die Schweizerische Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte (SBS) sind – neben den in der Taskforce engagierten Mitgliedern des Börsenvereins – unersetzbare, wichtige Mitstreitende bei der gemeinsamen Aufgabe, inklusives Publizieren in der Branche zum Standard zu machen. Bewusstsein aufbauen, Interesse und Freude an dem Thema wecken sowie erste Hilfestellungen geben: Das waren die ersten Etappen, die wir uns als Taskforce vorgenommen haben. So haben wir kürzlich sehr ausführliche Leitfäden zu den Themen barrierefreie EPUB3-E-Books, PDF-Dokumente und Webseiten veröffentlicht, die wir derzeit in einer Webinar-Reihe vorstellen. Diese Angebote sind für alle Branchenteilnehmerinnen und -teilnehmer interessant: von Mitarbeitenden in belletristischen Verlagen, über Fach- und Wissenschaftsverlage bis hin zum (Zwischen-)Buchhandel. Zudem haben wir in Kooperation mit dem dzb lesen das Handbuch der Fondazione LIA in Mailand ins Deutsche übersetzt. Dieses bietet einen umfassenden Einstieg ins Thema inklusives Publizieren. Auf der Webseite des Börsenvereins bündeln wir alle Inhalte zum Thema. Sie wird kontinuierlich erweitert.  

Was sind die größten Herausforderungen für die Buchbranche bei diesem Thema? 

Viele Herausforderungen bei der Umstellung werden wir wohl im Laufe der nächsten Monate und Jahre durch das Feedback der Branche erkennen können. Derzeit ist es tatsächlich das Wichtigste, dass alle Branchenteilnehmerinnen und -teilnehmer ein Bewusstsein für das Thema entwickeln, die Anforderungen verstehen und für ihr Unternehmen die Aufgaben identifizieren, die angegangen werden müssen.  

Die größte Herausforderung ist für uns derzeit der Gesetzestext. Da der EAA so viele wichtige Fragen für unsere Branche offenlässt, und auch bei der Implementierung ins deutsche Gesetz nur ein kleiner Spielraum bestand, um hier nachzubessern, ist es leider unmöglich, der Branche in einigen Fragen konkrete und rechtssichere Empfehlungen zu geben. So engagiert und vorsorglich wir gerade schon agieren, müssen wir uns damit abfinden, dass einiges in der Schwebe bleiben wird. Derzeit erwarten wir die Rechtsverordnung, die das Bundesministerium für Arbeit und Soziales dem BFSG zur Seite stellt, und hoffen, dass wir dann eventuell klarer sehen werden. 

Was muss bis 2025 noch getan werden? Welche Schritte auf dem Weg zum Ziel „Barrierefreies Lesen für alle“ stehen als Nächstes an? 

Das ist von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich. Um möglichst alle abzuholen und die unterschiedlichen Bedürfnisse abzudecken, setzen wir in Kooperation mit dem mediacampus in Frankfurt gerade ein breites Fort- und Weiterbildungsprogramm auf, das bis 2025 laufen wird.  

Ein Label für barrierefreie E-Books und ein Zertifizierungsprozess wären zudem wichtig zu etablieren. Dabei sollte auch der Austausch mit anderen Mitgliedstaaten stattfinden, sodass wir in 2025 möglichst nicht mit komplett unterschiedlichen Kriterien für barrierefreie E-Books in Europa umgehen müssen. Es gibt sehr viele andere Ideen und Projekte, die wir als Taskforce anstoßen wollen. Das alles geht in dieser Fülle und Zielstrebigkeit aber nur mit öffentlichen Fördermitteln. Wir arbeiten bereits an einem ersten Antrag und sind überzeugt, dass gut eingesetzte öffentliche Fördergelder unseren Anliegen einen enormen Schub verleihen würden – zum Wohle aller Leserinnen und Leser! 

Vielen Dank. 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2022.