D ie Ethnologie hat als akademische Disziplin eine bewegte Geschichte. Diesereicht von den Anfängen des Faches mit seinen vielfältigen Verstrickungen mit dem Kolonialismus bis zu ihrer neuen Relevanz als einer Wissenschaft, mit der viele ihrer Vertreter einen hohen gesellschaftspolitischen Anspruch verbinden.  

Mit dieser akademischen wie gesellschaftspolitischen Tradition sind auch die ethnologischen Museen eng verbunden, die im deutschsprachigen Raum die höchste Dichte weltweit aufweisen. Diese Verbindungen gelten auch und insbesondere für unsere drei Museen der Staatlichen Ethnographischen Sammlungen in Leipzig, Dresden und Herrnhut. Eine besonders wichtige Dimension ist hier die DDR- und Nachwendegeschichte, die unsere Häuser bis heute prägt – akademisch genauso wie hinsichtlich der vielfältigen internationalen Beziehungen zu Partnern in Ostmitteleuropa und im »Globalen Süden«.  

In einem Aufruf in der »Leipziger Zeitung« von 1869 wurde an das Bürgertum der Stadt Leipzig appelliert, seinen Beitrag für die Etablierung einer ethnographischen Sammlung in der Stadt zu legen, deren Grundstock die sogenannte kulturhistorische Sammlung des Dresdner Hofrates Gustav Friedrich Klemm bilden sollte. Die angekauften Dinge kamen aus Asien, Afrika, Amerika, Ozeanien, aber auch Europa. Die Gründung des Museums fällt in eine Zeit der Aufbrüche: Zwischen globalen »Entdeckungsreisen« zur Erforschung der Welt und dem immer schon mitschwingenden kolonialen Blick vervielfachte sich die Sammlung schnell. Besonders unter dem zweiten Direktor des Museums, Karl Weule, der gleichzeitig Leiter des »Ethnographischen Seminars« der Universität Leipzig war, verfünffachte sich die Sammlung auf bis zu 120.000 Nummern. Weule war ein prominenter Akteur in der Ethnologie, genauso wie er auf komplexe Weise in die kolonialen Netzwerke der Zeit eingebunden war. Er wusste vom kolonialen Herrschaftssystem zu profitieren und dessen brutales Macht- und Unterdrückungssystem zum Vorteil des Museums zu nutzen. Er war »eine bedeutende Gestalt in der kolonialen Szene, die in Leipzig vielleicht nur noch von dem Geografen und Kilimandjaro-Bezwinger Hans Meyerüberragt wurde«. Der Verleger und Professor für Kolonialgeografie Hans Meyer war einer der größten Gönner des Museums. Weule verdankte ihm ebenso seine erste und einzige »Expedition«, 1906, in die Kolonie »Deutsch-Ostafrika«. Es war die erste »völkerkundliche Expedition des Reichskolonialamtes«, von der er eine Sammlung von Makonde-Masken mitbrachte – der heute wohl größten Sammlung dieser Art in einem europäischen Museum. 

Heute wissen wir, dass ein Vielfaches der Sammlung nur unter teils brutaler Machtausübung den Menschen in den Herkunftsregionen genommen wurde. Und hier ziele ich noch nicht auf die »Ancestral Remains« ab – die menschlichen Überreste, die infolge kriegerischer Handlungen, Grabplünderungen bis hin zu gezielten Tötungen an die Museen verbracht wurden und bis heute in unseren Depots liegen. Ihre Rückgabe ist für uns eine der obersten Prioritäten in unserer Museumsarbeit. Wenn wir nun die Quellen und Korrespondenzen des »Sammlermilieus« in dieser Zeit lesen, müssen wir feststellen, dass Persönlichkeiten wie Weule in vollem Bewusstsein ihrer Taten waren. Es gab auch Gegenstimmen zu dieser Zeit, die den Kolonialismus ablehnten. Die in Leipzig wirkende Clara Zetkin ist eine der prominenteren, dazu gehören aber auch die bisher wenig beachteten Stimmen Schwarzer Menschen während dieser Zeit. Gerade die enge historische Verankerung des Museums in den gesellschaftlichen Netzwerken der Zeit verpflichtet uns dazu, diesen bisher wenig aufgearbeiteten Geschichten und Verbindungen nachzugehen.  

Wie kann vor dem Hintergrund der hier nur fragmentarisch skizzierten Museumsgeschichte die Zukunft eines Hauses wie dem GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig aussehen?  

Mit dem von der Kulturstiftung des Bundes in der Initiative für ethnologische Sammlungen geförderten Zukunftsprogramm »RE.INVENTING GRASSI« bekennen wir uns zu einer grundlegenden Neuausrichtung des Museums. Diese beinhaltet auch Repatriierung und Restitution als wichtige Pfeiler unserer musealen Praxis. Genauso beinhaltet sie die Einbeziehung unterschiedlichster Partnerinnen und Partner, regional aus Leipzig genauso wie international. Sie bedeutet mehr Debatte, mehr Bewegung und mehr Mut, auch Konflikte zuzulassen; sie beinhaltet, mehr zu hinterfragen und eine andere Zukunft zu wagen.  

Museen unterliegen der ständigen Transformation, worüber ihr doch eher statisch wahrgenommener Charakter hinwegtäuscht. Diese Bewegungen und fluiden Prozesse bilden wir gezielt im neu geschaffenen »BACKSTAGE«-Bereich ab. Ein »Care-Room« für präventive Konservierungsmaßnahmen macht den heutigen Umgang mit den Sammlungen im Haus einsehbar. Der »Raum der Erinnerung« verschreibt sich einer relationalen Ethik gemäß Felwine Sarr und Bénédicte Savoy und bietet einen pietätvollen Rahmen für die Rückgaberituale von menschlichen Überresten an die heutigen Nachfahren aus den Herkunftsgemeinschaften. Im »Prep Room« arbeiten Gastwissenschaftlerinnen an zukünftigen Programmenund Ausstellungsformaten. Wissenschaftler aus Brasilien treffen mithilfe von neuen Telepräsenzrobotern in diesem Bereich unsere Kollegen und tauschen sich – ohne hierfür extra anreisen zu müssen – über immaterielle Restitutionen aus. All das bildet einen zugänglichen Mittelpunkt unserer im März 2022 neu eröffneten Ausstellungsräume. 

Die Zusammenarbeit mit Vertreterinnen der Herkunftsgemeinschaften ist eine wichtige Komponente. Dass es auch schmerzhaft sein kann, Menschen einzuladen und Raum abzugeben in transnationalen und transdisziplinären Kontexten, muss ein ethnologisches Museum im 21. Jahrhundert aushalten. Ohne die Menschen, die ihre Stimme radikal erheben in diesen mit der Kolonialzeit verbundenen Institutionen, gibt es keine neuen Wege. So verwandelte für die Ausstellung »Berge Versetzen« das Künstlerkollektiv PARA zusammen mit den beiden tansanischen Künstlerinnen Valerie Asiimwe Amani und Rehema Chachage einen Steinsockel, auf dem bis 2019 die Bronzebüste Karl Weules stand, in »Skrupel« um: in Nachbildungen der von Hans Meyer 1889 abgeschlagenen Kilimandscharo-Spitze. Die Skrupel können von Besuchern in der Ausstellung selbst hergestellt werden, als nummerierte Unikate werden sie anschließend verkauft. Der Erlös dient dem Rückkauf der in Österreich befindlichen Hälfte der Spitze, um ihre Rückgabe nach Tansania zu ermöglichen. In diesem Akt der »partizipativen Restitution« kann jede und jeder Teil dieser Geschichte sein und ein Stück Verantwortung übernehmen. 

Hinter all dem steht ein Netzwerkgedanke, der das Museum in die Zukunft tragen soll. Das Museum als Knotenpunkt zwischen Stadtgesellschaft, Herkunftsgemeinschaften, internationalen Akteuren und »glokalen« Initiativen. Bereits im Dezember 2022 geht es weiter mit der Eröffnung neuer größerer Ausstellungsbereiche, gemeinsam konzipiert mit Partnerinnen von den Andamanen und Nikobaren genauso wie mit lokalen Initiativen aus Leipzig sowie Studierenden zweier kuratorischer Studiengänge. Dazwischen zeigen wir kleinere Projekte, wie beispielsweise eine Ausstellung, die das laufende Forschungsprojekt zur Provenienz von kolonialzeitlichen Sammlungen aus Togo präsentiert und gleichzeitig neue Forschungsmethoden erproben will.  

»RE.INVENTING« ist ein Prozess in Bewegung. Das bedeutet auch, dass sich Dinge schnell ändern. Aber hierin liegt die Zukunft eines ethnologischen Museums, welches versucht, die Komplexität der Zeit und unsere vielfältigen globalen Verflechtungen als Netzwerkmuseum immer wieder neu zu perspektivieren.  

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2022.