Zum Erinnern gehört das Vergessen. Das ist eine neurophysiologische Binsenweisheit. Aber was folgt daraus für die Gedenkkultur in Deutschland? Müsste zu ihr nicht auch eine Vergessenskultur gehören? Oder ist das eine problematische Frage? Ich kam auf sie, als ich kürzlich einen Aufsatz über die Neurophysiologie des Vergessens las. Da lernte ich, dass ein Mensch, der alles erinnert, nicht lange überleben würde. Er wäre überwältigt von den ungezählten, ungefilterten, ungeordneten Erfahrungen, die er im Laufe eines Tages macht. Deshalb räumt das Gehirn in der Nacht, im Schlaf und im Traum auf, ein und weg. Das Gedächtnis ist ja kein starrer Besitz, sondern nur zusammen mit dem Vergessen zu denken – als ein organischer, offener Prozess. Andererseits: Wenn ein Mensch zu viel vergisst und Abgespeichertes nicht mehr sichern kann, verliert er sich selbst. Was bedeutet das nun kulturell? Doch wohl, dass eine Gedenkkultur, die allein vom Imperativ des Erinnerns spricht und das Vergessen tabuisiert, sich in leeren Beschwörungen zu verlieren droht. Doch wie unterscheidet man sinnvoll zwischen einem guten, angemessenen, lebensdienlichen und einem bösen, verlogenen, herzlosen Vergessen? Man könnte es mit diesen drei Kriterien versuchen: Freiheit, Gerechtigkeit, Gemeinschaft.

Entscheidend ist, wer mit welchen Interessen darüber bestimmt, ob etwas vergessen werden darf oder muss. Es ist etwas anderes, ob ein Machthaber eine Amnesie anordnet, um selbst nicht belangt oder befragt zu werden, ob ein Betroffener sich darum bemüht, die Erinnerung an etwas Schreckliches zu bewahren, ohne den Schrecken an die Nachfahren weiterzugeben, oder ob eine neue Generation sich darum bemüht, aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen. Hier hängt alles daran, dass man gedenken darf und die dafür notwendigen Kenntnisse erwerben kann – um dann in aller Freiheit zu entscheiden, was man davon weiterträgt. Zu dieser Freiheit gehört die Gerechtigkeit für diejenigen, die unter einer Gewaltgeschichte zu leiden oder sie zu verantworten hatten. Gedenken kann erlittenes Unrecht nicht ungeschehen machen, aber die Prinzipien des Guten einschärfen und so in eine andere Zukunft führen – in der dann manches Geschichtliche verblassen mag, was aber nicht mit einer billigen, weil gerechtigkeitsblinden Gnade der Nachgeborenen zu verwechseln wäre. Ein Gedenken und Vergessen in Freiheit und Gerechtigkeit mag dann eine neue Gemeinschaft eröffnen, in der die Betroffenen einer Gewaltgeschichte sowie deren Nachfahren nicht in einem Trauma isoliert bleiben, die Nachfahren der Täter sich über die eigene Herkunftsgeschichte aufgeklärt haben und alle gemeinsam sich darüber verständigen, wessen sie wann gedenken, darüber sprechen oder auch einmal schweigen. In diesem Sinne lese ich den Satz von Ruth Klüger, der im erwähnten Aufsatz zitiert wurde: »Ich denke, dass Erlösung eng mit dem Fluss der Zeit verbunden ist. Wir sprechen von den Tugenden der Erinnerung, aber das Vergessen hat seine eigenen Tugenden.«

Hier zeigt sich, warum Rituale beim Gedenken so wichtig sind. Denn sie können dabei helfen, eine Balance aus Bewahren und Loslassen, Vergessen und Vergegenwärtigen einzuüben. Man kann nicht immerzu und überall gedenken. Man muss es auch nicht, wenn es dafür besonders ausgewählte Tage und Anlässe gibt, zu denen alle eingeladen sind – aber niemand genötigt wird. Dazu ein Beispiel aus meinem kleinen Leben:

Vor zwei Jahren standen wir Pate bei der Verlegung von zwei Stolpersteinen vor unserem Haus, ein bewegender Moment für uns und unsere Nachbarn. Aber schon ein paar Wochen später fiel mir auf, wie oft ich bei meinen Alltagswegen gedankenlos über die beiden Kupfersteine hinweggehe. Doch dann schickte uns die Stolperstein-Gruppe unserer Kirchengemeinde das, was sie in ihrer Biografiearbeit herausgefunden hatte. Bald darauf kam der 9. November, an dem die Steine gereinigt wurden und eine Kerze danebengestellt wurde.

So konnte das Vergessen eine Pause machen und das Gedenken wieder in sein Recht treten – das Gedenken an Ingeborg und Maximilian Jacobsohn.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2023.