Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt.« Dieser universelle, wohl ewig gültige Satz liest sich im Kontext von Friedhöfen wie ein Werbeslogan. Tatsächlich aber stammt er von Bertolt Brecht – und bekommt in einer unscheinbaren Ecke des Dorotheenstädtischen Friedhofs in Berlin-Mitte eine äußerst berührende, persönliche Dimension: Denn hier zeigen zwei schlichte Findlinge die Namen des großen Dramatikers und seiner nicht weniger berühmten Frau, Helene Weigel. Das Doppelgrab, das in seiner unprätentiösen, aber zugleich kraftvollen Gestaltung so perfekt zu Brecht passt, hat wesentlichen Anteil daran, dass dieser kleine intime Friedhof im Herzen der Hauptstadt zu einem der bedeutendsten Friedhöfe des Landes avancierte.
Die Beisetzung von Bertolt Brecht am 17. August 1956 löste nämlich eine Art Sogwelle aus: Viele Mitglieder der Akademie der Künste, deren Vizepräsident Brecht an seinem Lebensende war, wünschten sich daraufhin ebenfalls eine Beisetzung auf diesem Friedhof – und in ihrer Folge viele weitere prominente Künstlerinnen und Künstler.
Wer heute die Grabreihen des Dorotheenstädtischen Friedhofs besucht, wandelt so durch eine beeindruckende Gedächtnislandschaft der jüngeren deutschen Kunst- und Kulturgeschichte. Literatinnen und Literaten wie Anna Seghers, Christa Wolf oder Stefan Zweig, Regisseurinnen und Regisseure wie Ruth Berghaus, George Tabori oder Heiner Müller, Schauspielerinnen und Schauspieler wie Inge Keller, Otto Sander oder Erwin Geschonneck: Ihre Gräber halten die Erinnerung an herausragende künstlerische Leistungen wach – genau wie das Gedenken an viele weitere Kulturschaffende oder andere große Namen der Zeitgeschichte: Johannes Rau, Egon Bahr, Fritz Teufel.
Die Bedeutung dieses Friedhofs allein auf Bertolt Brecht zurückzuführen greift jedoch zu kurz: Denn bereits gut 100 Jahre zuvor löste die Beisetzung von Karl Friedrich Schinkel, dem großen Gestalter des Klassizismus, unter Intellektuellen und Kulturschaffenden einen ähnlichen Run auf die Grabplätze an der Chausseestraße aus. Und für Bertolt Brecht, der um die Ecke wohnte, war bei der Grabwahl sicher mitentscheidend, dass auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Johann Gottlieb Fichte hier ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten.
Bei all dieser Prominenz überrascht, dass dieser Friedhof keinesfalls besonders prächtig oder gar protzig gestaltet ist. Im Gegenteil: Das eigentlich Spektakuläre sind die Schlichtheit und Natürlichkeit dieses Ruheareals inmitten hektischen Großstadtlebens. Das gerade einmal zwei Fußballfelder große Grabfeld strahlt ein Höchstmaß an berührender Intimität und stiller Würde aus. Trotz seines großen Bekanntheitsgrades spürt man hier die besondere Atmosphäre eines Gartens der Erinnerung – eine Gefühlswelt, die die deutsche Friedhofskultur so einzigartig macht. Und das ist der Verdienst der Evangelischen Kirchengemeinde St. Marien-Friedrichswerder, in deren Obhut dieser Friedhof liegt. Hier werden nämlich nach wie vor in erster Linie Gemeindemitglieder beigesetzt und ihre Gräber von Angehörigen selbst gestaltet oder gepflegt. Und wann immer Prominenz hier beerdigt werden möchte, bedarf es der ausdrücklichen Zustimmung der Kirchengemeinde – und diese wird längst nicht jedem erteilt.
So präsentiert sich »Doro 1«, wie der Friedhof in Insiderkreisen heißt, nach wie vor als typischer Berliner Innenstadtfriedhof: überschaubar, von Mauern abgeschirmt, aber doch mitten im Leben gelegen. Und auch das Treiben auf diesem Friedhof ist für diese Stadt ebenso normal wie auf dem gleichnamigen Pendant an der Luisenstraße, dem Dorotheenstädtischen Friedhof II: Hier trauern nicht nur Menschen um Verstorbene oder erinnern ihrer – viele kommen einfach, um eine Auszeit zu nehmen, Ruhe zu finden oder Natur zu genießen.
Und doch ist dieser Friedhof etwas ganz Besonderes – und ein internationaler Besuchermagnet dazu. Das verdankt er nicht nur Schinkel und Brecht. Denn seit 2015 zieht ein weiterer Name die Menschen auf dem Dorotheenstädtische Friedhof magisch an: James Turrell, einer der wichtigsten Künstler unserer Zeit, hat das Innere der Friedhofskapelle in ein weltweit bekanntes Lichtkunstwerk verwandelt. Besonders in der Dämmerung der blauen Stunde am frühen Abend verschmilzt das natürliche Licht außen mit der sanft changierenden Beleuchtung im Inneren der schlichten Kapelle. Es entsteht eine besondere Stimmung mit großer Symbolkraft: Der Tod wird in vielen Kulturen mit dem Übergang vom Hellen ins Dunkle verbunden, das Johannes-Evangelium bezeichnet Jesu als das Licht der Welt, und nicht zuletzt ist das Licht selbst weltweit Symbol der Hoffnung. All das spiegelt sich in Turrells »Luther’s Light«, wie die Installation heißt, auf so beeindruckende wie berührende Weise.
Dabei ist Turrells Arbeit nicht das einzige sehenswerte Kunstwerk auf dem Friedhof: Viele Gräber sind von Künstlerinnen und Künstlern gestaltet wie von Sabina Grzimek, Gustav Seitz oder Fritz Cremer. Der Dorotheenstädtische Friedhof ist so zugleich auch bedeutender Skulpturenpark. Gemeinsam mit dem unmittelbar benachbarten kleinen Französischen Friedhof nimmt er die Besucher mit auf eine kulturhistorische Reise mit herausragenden Werken unterschiedlicher Zeit- und Stilepochen – mit einem deutlichen Schwerpunkt auf der Moderne. Und so ist dieser Friedhof, der unbestritten zu den großen Sehenswürdigkeiten der Stadt zählt, auch ein Hort der Kunst und Kultur, lebendig und kraftvoll zugleich.
Der Ursprung des eingangs zitierten Satzes von Bertolt Brecht ist übrigens nicht belegt – die Literaturwissenschaft verweist darauf, dass der zugrunde liegende Gedanke wohl bereits im 17. Jahrhundert ähnlich formuliert worden ist. Was aber unzweifelhaft aus der Feder Brechts stammt, ist das 1939 entstandene Gedicht »An die Nachgeborenen«, das mit dem wunderbaren Satz endet »Und gedenkt unsrer mit Nachsicht«.