»In the long run we all are dead.« Lord Keynes hat es gewusst, und wir wissen es auch: Unsere Lebenszeit ist kurz, der Tod stets schneller als die Sprünge, die wir uns zutrauen. Revolutionen sind sowieso überschätzt. Unsere Freiheit zum Neuen ist begrenzt. Wo wir anfangen, ist immer schon viel. Uns prägt der Geschichtsraum, aus dem wir kommen, das Herkömmliche, in dem wir uns einrichten. »Zukunft braucht Herkunft«, pointiert Odo Marquard. Doch muss auch die dialektische Antithese gelten. Wie sonst könnten wir leben? Friedrich Nietzsche spricht vom vitalen Interesse des Menschen, sich der Historie insoweit zu bedienen, wie seine Kultur sie zum Weiterleben braucht. Dabei sieht er eine »plastische Kraft« am Werk, »Vergangenes und Fremdes umzubilden und sich einzuverleiben«. Kulturelle Aneignung ist kritische Transformation, die Neues hervorbringen kann. Wie aber kommt das Neue in die Welt? Durch Handeln, nicht durch Geschwätz. Im Handeln – gerrere, das Weiterführen des Tragenden – entsteht Geschichte, res gestae.

Rainer Hank klagte bereits im vergangenen Jahr im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, dass zu viel Gerede und zu wenig Unternehmung der Fall sei. Sein Thema ist die anschwellende Nachhaltigkeitsdebatte, Beobachtungsfeld die Klassik Stiftung Weimar. Anlass war ein Besuch in Belvedere zu Goethes Geburtstag. Im schönsten Park Weimars sind nicht nur edle Gehölze zu bestaunen – zwei Myrten am Delphinbrunnen sah der Olympier noch –, sondern auch eine der weltweit letzten Orangerien mit historisch verbürgter Kanalheizung. Wo früher fast noch leibeigene Bedienstete alle zwei Stunden Holz nachlegten, sind es heute angestellte Saisonkräfte, die das Team hochspezialisierter Ziergärtnerinnen und Baumpfleger erweitern. 120 neu erworbene Pomeranzenbäumchen aus Sizilien haben sich hier im harten Winter 2021 bei 5°C akklimatisiert, bevor sie anlässlich des Themenjahrs »Neue Natur« die südliche Sehnsuchtsimagination des 19. Jahrhunderts wiederbelebten – zur schieren Freude von vielen aus der Pandemie hervortaumelnden Menschen, die plötzlich wieder wussten: Das Leben ist schön.

In der Tat, das alles kostet viel Arbeit, Steuergeld, Management und jede Menge Treibhausgasemissionen. Der gesellschaftliche Auftrag an den Kulturbetrieb lautet, immer mehr Menschen mit immer spannenderen Themen und präziseren Methoden zu erreichen und zu bewegen, nicht nur emotional und intellektuell, sondern ganz leibhaftig. Der Mythos der Moderne, die Logik des Höher, Schneller, Weiter, prägt auch die DNA der Kulturproduktion. Sind ihre Institutionen doch Erfindungen derselben bürgerlichen Gesellschaft, die Druckerpresse, Dampfmaschine und Datenindustrie entwickelte.

Daher zählen wir sicher nicht zu den Pionieren einer klimaverträglichen Gesellschaft, die – statt die Lebensumwelt der Spezies Mensch weiter zu zerstören – alle Bewusstseins- und Tatkräfte anspannt, um heikle Balancen im sich selbst regulierenden Erdsystem zu schaffen. Was aber von uns als einer der komplexesten Kultur- und Gedächtnisinstitutionen der Bundesrepublik legitim erwartet werden kann, ist ein spezifischer Beitrag zur großen Transformation der politischen Ökologie. Kultur als Mediator der freien radikalen Künste, aber auch Architektur, Städtebau und Design sind Leistungen des Schöpfergeistes der Menschheit. Sie gehören in den planetarischen Zusammenhang. Ohne ihre substanzielle Mitwirkung wird der Epochenumbruch nicht gelingen.

Was tun? Wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag, die transdisziplinäre Interaktion zwischen Wirtschaft, Kultur, Politik und den Wissenschaften, andere Fortschrittsmodelle. Kurzum: einen gesamtgesellschaftlichen Wandel, der nur Wirklichkeit werden kann, wenn er die Herzen der Menschen ergreift. Das schafft keiner allein und niemand sofort.

Gelingen kann der Transformationsprozess nur in einer schrittweisen, allerdings zügigen und lernenden Reformpraxis, die Kollaboration in wilden Allianzen voraussetzt. Und mit der Aktivierung historischer Ressourcen, die Mut machen: z. B. das empathische Aufbruchspotenzial und die Syntheseleistung des Bauhauses oder Goethes scheuer Respekt vor der Natur als alles umfassender, lebendiger Zusammenhang.

Ausgestattet mit diesen zwei Kernkompetenzen und einem Telefon initiierte die Klassik Stiftung im Mai 2021 das Ideenlabor Weimar als Beitrag zur Designphase des New European Bauhaus der EU-Kommission. Es war ein Test, auch für die eigene Verwandlungskraft: Geht das? Über die eigenen Grenzen hinaus handeln? Keine drei Monate – und ein Netzwerk aus unwahrscheinlichen Partnern, von der Leopoldina bis zum Land der Ideen, war geknüpft, eine Kreativagentur zur technisch-mentalen Entwicklung des hybriden Formats aus Livestream-Konferenz und Werkstatttagen beauftragt. Über 100 verantwortliche Vormacher und Vordenker aus Zivilgesellschaft und Bauwirtschaft, Kultur und Universität, Ingenieurs- und Sozialwissenschaften begannen das gemeinsame Reflektieren und Experimentieren, Zeigen und Streiten vor Ort und im Netz. An die digital dokumentierten Ergebnisse können andere Initiativen anschließen. Die Selbsterfahrung eines gelungenen Sprints, der ein Seitensprung aus dem System war, nehmen wir mit in unseren Reformprozess.

»So lange Museen nicht versteinern, werden sie zu sich wandeln müssen. Jede Generation wird ihnen neue Aufgaben bieten und neue Leistungen abverlangen.« Was Alfred Lichtwark um 1900 reklamierte, gilt heute und für hybride Kulturinstitutionen wie die Klassik Stiftung Weimar erst recht. Strukturelle Metamorphosen sind überlebensnotwendig für den Kultursektor in Deutschland. Wollen wir uns selbstbestimmt und rechtzeitig an die sich rasant wandelnde Umwelt anpassen, diese gar mitgestalten, braucht es tiefgreifende Änderungen in Organisationsstrukturen, Arbeitsprozessen, Regulierungssystemen, aber auch im Selbstverständnis und beim Auftrag der Träger.

Öffentliche Kulturinstitutionen sind per definitionem für alle da – als Dritte Orte der Besonnenheit, in denen Diskurs und Dissens, aber auch Differenzierung und Deutung ohne Gefahr für Leib und Leben geübt werden können. Ihr Vertrauensbonus als Hüter des kulturellen Erbes und künstlerischer Spitzenleistungen prädestiniert sie, Brückenbauer zu werden zwischen gestaltendem Staat und den Akteuren des Wandels in disparaten Funktionssystemen, aber auch Vermittler zwischen sozialen Klassen und politischen Zentrifugalkräften der modernen Gesellschaft – zwanglos, glaubwürdig, zuverlässig. Zweifelsohne bedeutet diese Perspektive eine Aufweitung des traditionellen Funktionskerns, die strukturelle Metamorphosen voraussetzt und erzeugt. Das ist sowohl mehr als auch weniger als klimagerechte Transformation. Nur ist das eine ohne das andere nicht zu haben.

Zurück in den denkmalgeschützten und klimakrisengeschüttelten Park. Er lehrt uns zwei Dinge: die Widerstandsfähigkeit der Natur im ökologischen Anpassungsprozess und die Fragilität der Natur als Lebensgrundlage des Menschen. Und vielleicht ein drittes: dass das sinnliche Erleben einer ästhetischen »Neuen Natur« zu intuitivem Verantwortungsbewusstsein verführen kann.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2022.