Deutschland ist eine europäische Kulturnation, die geprägt ist von den Werten der Aufklärung, Freiheit und Humanität. Kunst und Kultur formen dabei nicht nur die Identität jeder und jedes Einzelnen, sondern die unseres ganzen Landes. Und sie entwickeln sich mit den gesellschaftlichen Veränderungen weiter. Seit Jahrhunderten gehört auch das Zusammentreffen verschiedener Kulturen, Werte und Traditionen dazu.
Einen wichtigen Teil unserer Geschichte, Kultur und Kunst bewahren und veranschaulichen Museen – und das für 100 Millionen Besucherinnen und Besucher jedes Jahr! Das kontinuierlich hohe Interesse an einem Museumsbesuch verdeutlicht ein nachhaltiges Bedürfnis danach, sich über das Hier und Jetzt hinaus auch der historischen und kulturellen Bedingungen zu vergewissern. Museen können große gesellschaftliche Bewegungen, aber auch individuelle Entscheidungen und Abweichungen von der »Norm« skizzieren.
Zu solchen Abweichungen gehört die Entscheidung, sein Zuhause zu verlassen und in ein anderes Land zu gehen, um dort zu leben. Die meisten treffen eine solche Entscheidung nicht aus freien Stücken, andere wollen etwas wagen, alle wollen ihre Lebensverhältnisse verbessern. Diejenigen, die gehen und beispielsweise bei uns ankommen, werden sowohl von denen, die sie verlassen, als auch von uns, zu denen sie kommen, zunächst einmal argwöhnisch betrachtet – obwohl es Migrationsbewegungen durchgehend in der Menschheitsgeschichte gegeben hat. Den einen werden sie im Laufe der Zeit fremd, und wenn es schlecht läuft, bleiben sie im Ankunftsland Fremde.
Seit Jahrzehnten werden bei uns viele politische und gesellschaftliche Debatten um Migrationsbewegungen geführt, mit Instrumentalisierungen, einem hohen Gehalt an Populismus und zunehmend auch Verhetzung eines Teils unserer Gesellschaft mit familiären Einwanderungsgeschichten. Wo kann sich ein interessiertes Publikum informieren, Zeit zur Betrachtung erhalten und unterschiedliche Lebenswege der Migration unterscheiden? Bisher gibt es lediglich Auswanderungsmuseen mit einzelnen Ausstellungen zur Einwanderung. Das wird den Geschichten über und Ursachen für Migration nicht gerecht. Die vielfältigen Beweggründe zur Einwanderung in Deutschland, Ausstellungen zu verschiedenen Epochen und individuellen Lebensgeschichten, können ein klareres und nahbareres Bild vermitteln, das bisher eher Zufallsbegegnungen überlassen bleibt.
Der Bundestag hat bereits 2019 einen wichtigen Beschluss zur Errichtung eines Einwanderungsmuseums in Köln gefällt. Das ist ein Gemeinschaftsprojekt des Bundes mit dem Land Nordrhein-Westfalen und der Stadt Köln. Das geplante Museum soll bereits Verwerfungen und Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg aufgreifen, da so auch die unterschiedlichen Etappen und Herkünfte in der Geschichte deutlich werden. Und Köln ist die Stadt, in der 1964 der Millionste sogenannte »Gastarbeiter« Armando Rodrigues de Sá in der Bundesrepublik mit einem Moped begrüßt wurde. Auch wenn es immer viele Zweifler gab, die den Sinn eines solches Museums in Frage stellten, so begehen wir hier kein Neuland. Bereits in vielen Ländern der Welt wurden Migrationsmuseen eröffnet, so in Frankreich mit dem »Musée de l’histoire de l’immigration« in Paris oder dem »Ellis Island National Museum of Immigration« in New York.
Dass Fragen von Migration immer auch ein Teil der deutschen Geschichte sind, zeigt das Auswanderungsmuseum in meiner Heimatstadt Hamburg. Mit der Ballin-Stadt wird insbesondere die Geschichte von 1850 bis 1939, als Hamburg das »Tor zur Welt nach draußen« war, deutlich. Dabei war damals nicht Deutschland oder Europa der Anziehungspunkt, sondern Amerika Sehnsuchtsort für viele Europäerinnen und Europäer, die sich dort ein besseres Leben erhofften und aufbauen wollten.
Längst sind Europa und Deutschland für viele Menschen in der Welt ein Hoffnungsort für ein besseres Leben geworden. In unser Land kommen nicht nur Schutzsuchende, sondern vor allem viele Menschen aus aller Welt, die hier arbeiten, eine Ausbildung oder ein Studium absolvieren, Forschung betreiben oder in den Wirtschaftsstandort Deutschland investieren wollen. Und ja, es gibt auch viele Geschichten des Scheiterns und leider auch der Kriminalität. Gründe für Migration sind vielfältig, die Zahl der Herkunftsländer und Lebenswege noch vielfältiger.
Viele Zugewanderte, die über Jahrzehnte nach Deutschland kamen, haben zum wirtschaftlichen Aufschwung – zum Deutschen Wirtschaftswunder der 1960er Jahre –, zu Firmengründungen, zu medizinischen Erfolgen, zur Aufrechterhaltung der Pflege und Infrastruktur, zum Handwerk und vieles weitere beigetragen. Und wir wissen, dass dieses Land auf Fach- und Arbeitskräfte angewiesen ist, die sich für Deutschland als neue Heimat begeistern können.
Uns allen über ein Museum einen festen Platz in der gesellschaftlichen Erinnerungskultur zu geben, kann zu ganz neuen Erkenntnissen führen, nachdenklich machen – auch Fehler aufzeigen. Und es ist auch ein guter Baustein, um den weiterhin zu uns kommenden Menschen zu zeigen, dass es eine Migrationskultur mit Erwartungen und Angeboten in diesem Land gibt.
Ein künftiges Migrationsmuseums ist also Ausdruck einer bewussten Kulturpolitik, die endlich auch einen Teil der deutschen Geschichte und Gegenwart zum Mittelpunkt macht, der seit jeher unsere Gesellschaft und Kultur prägt. Zukunft lässt sich besser gestalten, wenn man die Vielfalt der Vergangenheit versteht und Zugang zu Räumen hat, wo historische Spuren nachverfolgt, politische Entscheidungen hinterfragt und offene Debatten geführt werden können.