Am 20. Oktober veröffentlichte Lars Henrik Gass, Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, auf der Facebook-Seite des Festivals ein Posting, in dem er zu Solidarität mit Israel aufrief. Er reagierte damit auf das Massaker vom 7. Oktober und auf die antisemitischen Reaktionen, insbesondere auf Gruppen, die nach Bekanntwerden des Terrorangriffs diesen in Berlin gefeiert hatten. Die Folge war ein Boykott-Aufruf gegen das Festival, der weltweit viral ging, damit verbunden viele Absagen, insbesondere von Verleihfirmen, aber auch von Künstlerinnen und Künstlern, die eingeladen waren. Auch als Reaktion auf den Boykott-Aufruf und die Absagen veranstaltete das Festival zum Start eine Tagung: »Sehnsucht nach Widerspruchsfreiheit. Kultur und Öffentlichkeit«. Hier sollte es um Programmatik und Haltung von Kulturinstitutionen gehen, um den Anspruch an Kulturinstitutionen, sich zu politischen Debatten zu verhalten, um den Begriff der »Cancel Culture« und um Boykotte gegen die Zusammenarbeit mit Personen oder Institutionen wegen ihrer Positionierung. Lea Wohl von Haselberg war als Diskutantin geladen. Im Gespräch berichtet sie von der Tagung und ihren Eindrücken.
Barbara Haack: Wie wurde die diesjährige Vorgeschichte mit Facebook-Post, Boykott-Aufrufen und Absagen im Rahmen der Tagung und des Festivals diskutiert?
Lea Wohl von Haselberg: Man kann dazu nur das sagen, was sichtbar und öffentlich war. Lars Henrik Gass hat auf Facebook sehr kurz nach dem 7. Oktober zu einer israelsolidarischen Demonstration aufgerufen. Er hat vielleicht zum Teil unbedachte Formulierungen gewählt, aber es war kein Aufruf zur Gewalt. Er hat anschließend nochmal versucht einzuordnen, dass er sich nicht rassistisch oder pauschalisierend äußern wollte.
Das hat allerdings nichts genützt. Es gab einen offenen Brief an die Film-Community, in dem mindestens indirekt zum Boykott des Festivals aufgerufen wurde. Dieser Brief wurde anonym verfasst und ist dann im Laufe der Zeit von fast 2.000 Filmschaffenden und der Filmkultur nahestehenden Menschen unterschrieben worden. Das hat dazu geführt, dass zahlreiche Absagen die Oberhausener Kurzfilmtage erreicht haben – von Künstlerinnen und Künstlern, aber auch Verleihern. In der Zeit zwischen diesem Aufruf im Herbst und dem Beginn des Festivals ging die Kampagne weiter. Gass hat Hass-Mails bekommen, anonyme, aber auch mit Namen gezeichnete. Das Festival ist durch die Kampagne in eine Krise geraten; was das persönlich für einen Menschen bedeutet, auf eine solche Weise zur Zielscheibe zu werden, ist vielleicht auch nicht nebensächlich. Was ich daran bezeichnend finde, ist zum einen, dass es offensichtlich in diesem Diskurs nicht mehr möglich ist, etwas einmal Gesagtes zurückzunehmen. Das wird sofort in eine binäre Logik der Polarisierung eingespeist. Bezeichnend ist auch, dass so eine Kampagne anonym passiert. Wenn wir finden, dass Boykott ein legitimes politisches Mittel ist, dann kann man sich auch namentlich dazu bekennen. Es haben sich ja auch 2.000 Menschen namentlich dazu bekannt, aber die Urheber dieses Briefes haben das nicht getan. Es ist auch nicht klar, wer ihn zirkuliert hat. Immerhin ist dieser Brief sehr strukturiert in alle Welt verschickt worden. Er hat eine große Verbreitung gefunden und wurde sehr explizit an die Film-Community adressiert.
Der Titel der Tagung »Sehnsucht nach Widerspruchsfreiheit« ist ja schon ein Widerspruch in sich, denn Kunst und Kultur sollen ja gerade Widerspruch, Dialog erzeugen. Auch eine solche Tagung ist dazu da, miteinander in den Dialog zu gehen, gerne im gegenseitigen Widerspruch. Hat das im Rahmen dieser Tagung stattgefunden?
Eine Beobachtung in dieser Debatte, aber auch in anderen gesellschaftlichen Kontroversen, ist, dass wir es mit einer sehr starken Polarisierung zu tun haben, mit einem Lagerdenken, und dass diese Lager (vermeintlich) unter sich bleiben – tatsächlich sind natürlich die Positionen alles andere als homogen. Für mich ging der Titel »Sehnsucht nach Widerspruchsfreiheit« in zwei Richtungen: Einerseits geht es um die Sehnsucht danach, vom Widerspruch der anderen verschont zu bleiben, keine Gegenrede zu erhalten. Da wird Widerspruch häufig als Angriff gedeutet oder als ein Versuch, die Meinungsfreiheit einzuschränken. Meinungsfreiheit bedeutet aber nicht, dass man das Recht hat, etwas zu sagen, ohne Widerspruch aushalten zu müssen.
Sehnsucht nach Widerspruchsfreiheit führt andererseits klar zum Antisemitismus, weil Antisemitismus eine Kulturtechnik ist, den Widersprüchen der Moderne zu begegnen und diese projektiv auszulagern.
Geht es also auch um die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die einerseits identitätsstiftend ist und gleichzeitig die Funktion hat auszugrenzen?
Es gibt sehr viele identitätspolitische Ansätze in den ganzen Debatten, dies aber auf allen Seiten, das ist mir wichtig zu betonen. Sie kaschieren sich häufig, weil gesellschaftliche Machtpositionen oder dominante Gruppen so tun, als sei das, was sie machen, keine Identitätspolitik. Es gibt diese Problematik natürlich. Der Streit wird schwierig, wenn ich nicht mit einer spezifischen Expertise spreche, sondern stark oder primär von einem identitär bestimmten Sprechort agiere. Dann ist jeder Angriff auf das, was ich sage, ein Angriff auf meine Person und nicht auf meine Position. Das ist natürlich viel schwerer auszuhalten.
Lars Henrik Gass spricht in einem Interview davon, dass »weite Teile des Kulturbetriebs den Antisemitismus und das Ressentiment als eine Art von ritueller Vergemeinschaftung benötigen«. In der Ankündigung der Tagung wurde die Frage gestellt: »Kommt die größte Gefahr für kritische Diskussionen über den Umgang mit politischen Themen innerhalb des Kulturbetriebs aus dem Kulturbetrieb selbst?« Wie sehen Sie das Thema speziell im Kulturbereich verortet?
Ich finde es hier wirklich sehr schwer eine pauschale Antwort zu finden. Offensichtlich gibt es ein Problem in »dem Kulturbetrieb«, aber ich beobachte auch ein bereitwilliges sich Einschießen auf eben diesen Kulturbetrieb oder »die Kunstszene«. Ich habe den Eindruck, dass hier dem Volkssport nachgegangen werden kann, den Antisemitismus bei den anderen zu suchen, in diesem Fall im linken Kulturbetrieb.
Die Polarisierung und der Populismus in den aktuellen Debatten führen doch dazu, dass man die Lager als homogen wahrnimmt, obwohl sie es nicht sind und die Differenzen verschwinden. Ich sehe im Kultur- oder spezieller im Filmbereich viele Themen, über die man sprechen sollte. Klar gibt es da ein Antisemitismusproblem, aber damit es produktiv werden kann, müssen diese Auseinandersetzungen unbedingt konkret und nicht pauschalisierend sein. Gerade das Kommunizieren in offenen Briefen, die sichtbare Positionierung durch Kleidung oder Symbole suggeriert oft einheitliche Positionen. Wenn wir Lösungen finden wollen, dann sicherlich nur durch das genaue Hinschauen.
Hat die Tagung neue Erkenntnisse gebracht, Ergebnisse, mit denen man weiterarbeiten könnte?
Am Ende sind während dieser Tagung gar nicht so kontroverse Positionen aufeinandergetroffen. Es erweist sich häufig als schwierig, Menschen zusammen auf ein Podium zu bekommen, die sehr unterschiedliche Positionen haben. Ich weiß, dass die Veranstalter dieser Tagung mit sehr vielen Absagen zu kämpfen hatten, und ich weiß auch, dass Menschen, die zu dieser Tagung gekommen sind, unter Druck gesetzt wurden. »Nach Oberhausen fahren« galt als unsolidarisch.
Wie war die Stimmung beim Filmfestival? Gab es Enttäuschung oder Angst?
Ich hatte das Gefühl, dass sich viele auf das Programm gefreut haben. Während der Tagung fand ich, dass viele rhetorisch in ihren Schützengräben sitzen und sich im Angriffsmodus befinden. Ich habe das Gefühl, dass wir dringend abrüsten, in eine andere Sprache kommen müssen, raus aus dem Lagerdenken – das bedeutet gleichzeitig aber nicht, dass Dinge nicht klar benannt und auch kritisiert werden sollen.
Vielen Dank.