Historische Adaptionen, noch dazu politische Fragen betreffend, können eine heikle Sache sein. Doch manchmal schärfen sie auch den Blick auf die Gegenwart. So erlebte ich es jüngst wieder. Denn in seinem neuen Essay-Band »Das große Beginnergefühl« zeichnet der österreichische Schriftsteller Robert Misik ein erfrischendes Porträt der Moderne im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Was trieb den Fortschritt damals an und was waren Gelingensbedingungen für die radikale Transformation der Wirklichkeit? Was war erstrebenswerte Utopie – und was der spätere Albtraum? Misik wirft die Moderne betreffende Fragen auf, die auch heute wieder verhandelt werden – und zu denen sich politische Parteien verhalten sollten.

Dass die SPD als linke Volkspartei ihre Wurzeln »in Judentum und Christentum, Humanismus und Aufklärung, marxistischer Gesellschaftsanalyse und den Erfahrungen der Arbeiterbewegung« hat, das kann man ihrem Grundsatzprogramm entnehmen. Versteht man die Aufklärung hier als Berufung auf die Vernunft als universelle Urteilsinstanz, als Kampf gegen Vorurteile, als Hinwendung zu den Wissenschaften, als Plädoyer für religiöse Toleranz und persönliche Emanzipation, als flammendes Bekenntnis zu Bürgerrechten, allgemeinen Menschenrechten und dem Gemeinwohl als Staatspflicht, verbunden mit dem Optimismus, in einer vernunftorientierten Gesellschaft die komplexen Herausforderungen menschlichen Zusammenlebens schrittweise lösen zu können, so ist denn die Sozialdemokratie als Kämpferin um gerechten Fortschritt in der Moderne zu begreifen.

In diesem sozialdemokratischen Sinne kommt Kunst und Kultur eine im Wortsinn elementare Rolle zu. So bestätigt Misik auch, dass dies für die Arbeiterbewegung nie schmückendes Beiwerk, sondern Kultur nach ihrem Verständnis vielmehr »Schrittmacherin des Fortschritts« war, und bis heute ist. Nicht allein in einem utopischen Sinne, sondern auch ganz lebensweltlich. So findet sich etwa der Nukleus des wegweisenden Wohnungsbaus im »Roten Wien« nicht etwa an den Reißbrettern sozialdemokratischer Amtszimmer, sondern in den Denkräumen freier Künstler und Architekten, die Wohnen im Sinne der Menschen neu dachten: Sie schufen moderne räumlich organisierte Lebensweisen. In diesem Sinne waren Bruno Tauts Hufeisensiedlung oder auch Ernst Mays Frankfurter Küche weit mehr als städtebauliche und wohnliche Innovationen. Sie waren vielmehr gesellschaftlich und ästhetisch avantgardistisch.

Das sozialdemokratische Verständnis von Kultur ist seit jeher eng mit dem Begriff des gesellschaftlichen Fortschritts verknüpft. Doch was bedeutet dieses Credo dann heute für die Kulturpolitik angesichts wachsender Verteilungskämpfe um Ressourcen aller Art?

Aus Sicht der Sozialdemokratie ist Kultur demokratierelevant. Sie in Freiheit zu ermöglichen ist notwendige Voraussetzung für ihre Entfaltung. Das unterscheidet uns zuvorderst von autoritären Regimen, die ihre Macht ohne die Unterdrückung freier Künstler nicht aufrechterhalten können. Die Angst diktatorischer Regime vor den freien Künsten unterstreicht in letzter Konsequenz nur deren diskursive Wirkmacht. Das Verhältnis von Staat und Kultur ist in diesem Sinne auch Seismograf für den Zustand einer Gesellschaft, ein anti-demokratisches Frühwarnsystem sozusagen.

Die Coronapandemie hat Teile der Kulturlandschaft und vor allem Künstler und Kreative selbst schwer getroffen. Die geradezu bürokratische Frage: »Muss das – weil systemrelevant – offenbleiben oder kann das weg?«, war für viele Kulturschaffende ein demütigender und nicht selten existenziell bedrohlicher Schlag. Für unsere Gesellschaft war sie eine Zumutung. Zwischen Kunst und Gesundheit entscheiden zu sollen, das ist wie die Entscheidung zwischen Essen und Trinken.

Umso wichtiger war und ist der Neustart, der mit Geld allein nicht getan ist. Natürlich müssen wir Künstler besser sozial absichern. Die SPD steht hier in einer langen Tradition, die heute ganz konkret von Hubertus Heil als Arbeits- und Sozialminister fortgesetzt wird. Jedoch verbinden wir damit nicht den Anspruch, künstlerische Arbeit als gratifizierungsbedürftig zu klassifizieren. Nach dieser Logik würde sie – wie es vielerorts der Fall ist – früher oder später zur lediglich freiwilligen Leistung einer Gebietskörperschaft und damit zu einem Nice-to-have.

Stattdessen müssen wir gesellschaftlich wieder viel deutlicher herausarbeiten, welch fundamentale Bedeutung Kunst und Kultur für unser Zusammenleben haben. Und weil nichts Geringeres als das Grundgesetz den demokratischen »Common Ground« fixiert, wollen wir Kultur als Staatsziel im Grundgesetz verankern. Die Künste sind eine wesentliche Werte-, Identitäts- und Diskursressource und für den Zusammenhalt in der Demokratie unverzichtbar. Kultur ist für den demokratischen Rechtsstaat konstitutiv.

Das bedeutet zum einen, dass wir sie also fest als Staatsziel im Grundgesetz verankern und daraus folgend die sozialen und finanziellen Grundlagen sicherstellen müssen, die eine freie und kritische Kultur überhaupt ermöglichen. Die SPD begreift sich hierbei als eine Partei, die Kultur nicht als losgelöste Insel versteht, sondern Kulturschaffende als Manufakturisten kultureller Wertschöpfung in den Blick nimmt. Es reicht auf Dauer eben nicht – wie im Zuge der Coronapandemie geschehen – notwendige Sonderprogramme und Fonds aufzulegen, um Schlimmeres zu verhindern. Die soziale Absicherung gehört im Lichte des weitflächig stotternden »Restarts« nach Corona in den Mittelpunkt der Diskussion. Wir haben über die Zukunft der Künstlersozialversicherung und auch über eine bessere Absicherung durch die SGB-Regelsysteme zu sprechen.

Kultur lebt dort, wo Menschen leben

Eine sozialdemokratische Kulturpolitik richtet ihren Blick auf die Vielen. Es geht uns darum, »Kultur für alle« – unabhängig von Herkunft, Bildung, sozialem Status und finanziellen Mitteln – zu ermöglichen. Nicht alleinig durch große Einrichtungen in den urbanen Zentren, sondern durch ein möglichst flächendeckendes Kulturangebot und die entsprechende Infrastruktur, also den buchstäblichen Zugang zur Kultur. Die in unserem Grundgesetz proklamierten gleichwertigen Lebensverhältnisse erfordern keine Opernhäuser in Kleinstädten, wohl aber den Abbau monetärer und struktureller Hürden und somit eine Erreichbarkeit der urbanen Kulturüberschüsse. Der linke Stadtsoziologe Henri Lefebvre leitete hieraus ein »Recht auf Stadt« ab.

Wer den Karl-Marx-Hof in Wien besucht, dem nach Misik »wahrscheinlich berühmtesten Sozialbau der Welt«, wird in den Hofanlagen noch heute Theatersäle und Künstlerateliers finden. Ein Modell für die Baupolitik heute? Zumindest ein Denkanstoß, wie angesichts des steigenden Verwertungsdruckes in unseren Städten, aber auch im ländlichen Raum, kulturelle Freiräume gesichert oder gar neu erkämpft werden können.

Eine entscheidende Aufgabe wird sein, die Kommunen auch finanziell dauerhaft in die Lage zu versetzen, Kunst, Kultur und andere »freiwillige« Leistungen aus eigener Kraft zu fördern. Die SPD möchte dabei insbesondere die Museen, Theater und die soziokulturellen Zentren als Räume für öffentliche Debatten stärken. Auch die Club- und Kreativszene gehört für uns zum kulturellen Leben und hat einen Anspruch auf kulturpolitische Unterstützung. Das wird jedoch auf Dauer nur Erfolg haben, wenn wir die wirtschaftliche Stärke oder Schwäche unserer Städte und Gemeinden nicht mehr länger an geschlossenen Bühnen und Ausstellungsflächen ablesen können.

Die Lebensweltlichkeit der Kultur zu stärken, das heißt für die SPD, die Kultur in den Stadtteilen und Dorfkernen zu festigen, z. B. in den öffentlichen Bibliotheken oder anderen sozio-kulturellen Zentren. Orte also, die zwischen Arbeitsplatz und eigener Wohnung überwiegend nichtkommerzielle Begegnung in Gemeinschaft ermöglichen und gesellschaftlichen Zusammenhalt stiften.

Chancen der Digitalisierung 

Eine fortschrittliche Kulturpolitik muss die Chancen der Digitalisierung stärker nutzen. Wir brauchen einen Pakt der digitalen kulturellen Teilhabe in Deutschland. Denn die Digitalisierung ist für den Kulturbereich phasenweise eine Herausforderung, vor allem aber eine Chance. Die große Herausforderung besteht insbesondere in ökonomischer Hinsicht und unterstreicht die Notwendigkeit eines Schutzschirmes gegen den Imperativ andauernder Verwertbarmachung. Gleichzeitig entstehen neue Möglichkeiten hinsichtlich der Schaffung, Verbreitung und Öffnung des Kulturbereichs hin zu einem größeren Nutzerkreis.

Dazu gehört es auch die kulturelle Bildung zu stärken und damit meine ich nicht nur Musik- und Kunstunterricht. Uns geht es um Angebote dort, wo sich Jugendliche aufhalten, sei es eben im Netz, in der Jugendfreizeit oder im öffentlichen Raum.

Unsere Gesellschaft steht derzeit vor tiefgreifenden ökonomischen und technischen Veränderungen, die Berufsbilder und Perspektiven aber auch gesamte Regionen und ihre Strukturen verändern. Diese Zeitenwende ruft, wie von Misik beschrieben, nach Künstlern als scharfen Beobachtern und autarken Akteuren gesellschaftlicher Umbrüche sowie als Korrektiv, um Veränderungen in einem marktwirtschaftlichen getriebenen Umfeld in eine fortschrittliche Richtung zu lenken. Diese Arbeit sicherzustellen und anzuregen ist Gegenstand sozialdemokratischer Kulturpolitik.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2022.