In diesen Tagen meinte ein 82-Jähriger zu mir: »Im Krieg bin ich geboren, und es sieht so aus, als müsste ich auch im Krieg sterben.« Mir kam keine ermutigende Antwort über die Lippen, denn tatsächlich ist die Welt so unsicher wie lange nicht mehr. Was antwortet man in solchen Zeiten? Über acht Monate dauert der russische Angriffskrieg in der Ukraine jetzt bereits. Noch hat Russland vielfältige politische und militärische – auch nukleare – Optionen und Reserven. Hätte ich sagen sollen, guter Mann, es ist der Novemberblues, der sie vermutlich fest im Griff hat? 

Ist der November wirklich ein so dunkler und trostloser Monat? Der katholische Feiertag Allerheiligen am 1. November und der am nächsten Tag folgende Allerseelen klingen ähnlich beklemmend wie der protestantische Totensonntag und scheinen perfekt die Vorstellung vom dunklen Monat zu untermauern. Der erste Advent am Monatsende ist weit entfernt. Nicht zu vergessen der Buß- und Bettag. Er ermöglicht allerdings nur noch den Sachsen feiertägliche Buße. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.  

Tröstlicher, wenn auch nicht arbeitsfrei, kommt der Martinstag einher: St. Martin, der Heilige des Teilens. Ihn verehren Katholiken, Orthodoxe, Protestanten und Anglikaner gleichermaßen. Wir kennen die Geschichte vom geteilten Mantel, die vermutlich auch an einem Novembertag spielte. Zurzeit bekommt das Teilen am Martinstag wieder eine neue Bedeutung. Denn auch die Martinsgänse werden geteilt werden müssen: Der jahrelange Preis eines prall gemästeten Federviehs hat sich in diesem Herbst verdoppelt. Bei der allseits so beliebten Martinsgans ist deshalb der Slogan: teilen! 

Die zweite Martins-Geschichte scheint deutlich schmerzfreier und fantasievoller. Sie steht im »Goldenen Legendenbuch« und spielt zu Zeiten des christlichen Kaisers Theodosius. Er hatte das Christentum zur Staatsreligion gemacht und die Kirche reichlich mit Privilegien ausgestattet. Die Gegenleistung: Die Kirche sollte Stütze des Reiches und seiner Herrschaft sein. Ein Deal, der auch heute nicht unbekannt ist. So nicht, wird Martin gedacht haben. Er, Bischof von Tours, nahm seinen Titel ernst: »Vater der Armen« nannte man ihn. Deshalb pilgerte er zum Kaiser, um sich für die Armen einzusetzen. Die Geschichte nahm ihren Lauf: Der Kaiser war nicht zu sprechen, unabkömmlich, vermutlich auf Dienstreise. Und Martin? Er fastete, streute Asche auf sein Haupt, betete, trat erneut den Bittgang an und wurde zum Kaiser vorgelassen. Spätestens jetzt wissen wir, warum diese Erzählung in einem Legendenbuch steht, in dem es wörtlich heißt: »Da bedeckte plötzlich Feuer den königlichen Stuhl und brannte den Kaiser an seinem hinteren Teil, dass er voll Zorn musste aufstehen. (…) Und der Kaiser bewilligte ihm alles, noch ehe er darum bat.« Fazit: Wenn nichts hilft, dann befeuern, egal ob den Wertesten oder das Hirn. 

Eine völlig andere, aber hoffentlich wirksame Art des Befeuerns entdeckte ich neulich in der Leipziger Innenstadt. »22 ist nicht 89 – Wir leben in keiner Diktatur«, las ich an der Front der Propsteikirche St. Trinitatis. Die Katholische und Evangelische Kirche in Leipzig hatten sich entschlossen, den Missbrauch des 89er-Narrativs durch rechtsnationalistische Gruppierungen wie AfD und »Freie Sachsen« öffentlich mit dieser Lösung zu befeuern und damit ein deutliches Zeichen zu setzen gegen die Montagsaufmärsche, die sogenannten »Spaziergänge« dieser Gruppen, die dabei Verschwörungen und kruden Theorien lauthals Stimme geben. 

Da deutlich mehr Menschen die Kirchen von außen als von innen sehen, ist das Verkünden von Botschaften an kirchlichen Außenwänden beste PR. »Kirche erwache«, dachte ich, »bereits Luther zeigte uns vor 505 Jahren an einer Kirchentür, wie das geht.« Die Typografie-Klasse der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst könnte so ihre Künste erproben. 

An der Thomaskirche – und damit würde man dem Heiligen Thomas von Aquin ein Stück weit gerecht, da er sich mit der Anwendung des Gewissens beschäftigte – sollte stehen »Alle 12 Sekunden stirbt ein Kind an Unterernährung, wir aber in Deutschland werfen jährlich rund 20 Millionen Tonnen oft noch genießbarer Lebensmittel in den Müll«. Und Ähnliches fiele mir für viele Kirchen in Leipzig ein. Eine solche Form der Einmischung hülfe vermutlich auch gegen Novemberblues. 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2022.