Die Kritik am Wirtschaftswachstum ist fast so alt wie das Phänomen selbst. Eine neue Dimension bekam sie durch die verstärkte Wahrnehmung der Endlichkeit der Ressourcen auf diesem Planeten. So ist die durch den ersten Bericht an den Club of Rome von 1972 begonnene breite gesellschaftliche Diskussion über »Die Grenzen des Wachstums« bis heute nicht abgerissen. Aber 50 Jahre später und in einer drastisch veränderten krisengeschüttelten Welt liegt der Fokus zunehmend weniger auf der Kritik am Wachstum und mehr auf der Frage nach möglichen Alternativen – nach Vorschlägen für eine solidarische Postwachstumsgesellschaft. Die Geburt des Wortes »décroissance« in seiner heutigen Bedeutung kann auch auf das Jahr 1972 zurückdatiert werden. Der Sozialphilosoph André Gorz fragte bereits damals: »Ist das Gleichgewicht der Erde, für das Null-Wachstum – oder sogar décroissance der materiellen Produktion notwendige Bedingung ist, vereinbar mit dem Überleben des kapitalistischen Systems?« Der wichtigste Impuls im 21. Jahrhundert kam von der Décroissance-Bewegung, die sich in den vergangenen zehn Jahren von Frankreich über Spanien und Italien aus ausgebreitet hat. In den Ursprüngen war diese Bewegung stark in anarchistischen Umweltgruppen und Kampagnen für auto- und werbefreie Städte, gegen industrielle Großinfrastrukturen und für den lokalen Aufbau von Alternativen verwurzelt, hatte aber immer auch eine akademische und internationalistische Ausrichtung auf globale Umweltgerechtigkeit. Die erste internationale Degrowth-Konferenz für ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit fand 2008 in Paris statt und etablierte den englischen Begriff »Degrowth« in der internationalen wissenschaftlichen Debatte. Seitdem finden regelmäßig internationale Konferenzen statt, mit teils sehr großem Zulauf – so kamen zur Konferenz 2014 nach Leipzig über 3.500 Menschen, bei der wegen Corona online stattfindenden Degrowth-Konferenz in Wien 2020 waren es noch mehr. In den letzten zehn Jahren hat sich unter dem Schlagwort Décroissance, Degrowth oder Postwachstum eine vor allem europäische Bewegung von wissenschaftlich arbeitenden und aktivistisch orientierten Menschen versammelt, die das vorherrschende Entwicklungsmodell des kontinuierlichen kapitalistischen Wachstums kritisiert und nach Alternativen sucht. Degrowth – was so viel heißt wie Wachstumsrücknahme oder Entwachstum – ist dabei vor allem ein politischer und provozierender Slogan, der die Hegemonie des Wachstumsparadigmas infrage stellt. Die Kernidee ist eine sozial-ökologische Transformation der Produktions- und Lebensweise, die das Wohlergehen aller zum Ziel hat und die daher – angesichts der ökologischen Krisendynamiken sowie anderer wachstumsbezogener Krisen – für den globalen Norden eine demokratisch organisierte Reduk­tion von Produktion und Konsum auf ein global gerechtes und nachhaltiges Niveau bedeutet.

Degrowth oder Postwachstum – beides lässt sich weitgehend synonym verwenden – führt dabei ziemlich vielfältige und teils widersprüchliche Strömungen und Positionen zusammen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie alle den Technikoptimismus des seit den 1990er Jahren vorherrschenden Nachhaltigkeitsdiskurses mit seinem Versprechen der Entkopplung von Wachstum und Umweltverbrauch kritisieren. Ökologische Gerechtigkeit, so ein Kernargument dieser grundlegenden Kritik am »grünen Wachstum«, kann nur erreicht werden, wenn die »imperiale Lebensweise« des globalen Nordens mit ihrem nicht nachhaltigen Wohlstand auf Kosten des globalen Südens und der Umwelt überwunden wird. Es geht also um die Deprivilegierung derjenigen, die aktuell auf Kosten anderer leben und diese Kosten in Raum und Zeit externalisieren. Weil eine absolute Entkopplung von Umweltverbrauch und Wirtschaftswachstum ein Ding der Unmöglichkeit ist, impliziert dies ein Ende des Wachstums im globalen Norden und eine Verringerung der biophysikalischen »Größe« der Wirtschaft. Die zweite wesentliche Gemeinsamkeit liegt in dem Versuch, konkrete Utopien als Alternativen zum Wachstumsdiktat zu entwerfen, sich mit der Möglichkeit wachstumsunabhängiger Institutionen und Infrastrukturen auseinanderzusetzen und dies mit widerständigen Praktiken und alternativen Lebensweisen im Hier und Jetzt zu verbinden. Überlegungen zu einer Postwachstumsgesellschaft sind dabei nicht isoliert und losgelöst von bisheriger Theorie und Praxis entstanden, sondern basieren auf einer Vielzahl von Denktraditionen und knüpfen an konkrete soziale Auseinandersetzungen an. Wichtige Impulse kommen vor allem aus der politischen Ökologie und Bioökonomik, der feministischen Ökonomie, den postkolonialen und Postdevelopment-Studien sowie der Kapitalismus- und Technikkritik. Im Kern geht es um das Zurückdrängen des Ökonomischen als Sphäre verselbständigter Rationalität und des ökonomischen Kalküls als alleiniger Entscheidungsgrundlage – und damit ebenso um die Repolitisierung und Demokratisierung gesellschaftlicher Institutionen wie um das Erkämpfen von selbstbestimmten Freiräumen. Dabei bezieht sich Postwachstum ausdrücklich auf die frühindustrialisierten Länder des globalen Nordens, auch wenn soziale Bewegungen aus dem Süden wichtige Bündnispartner sind. Mit dem starken Fokus auf systemische Alternativen hat sich Postwachstum nicht nur zu einem Kernkonzept lebhafter intellektueller und wissenschaftlicher Debatten entwickelt, sondern auch zu einem interpretativen Rahmen für vielfältige alternativökonomische Strömungen und soziale Bewegungen. Auch wenn fraglich ist, ob von einer Degrowth-Bewegung gesprochen werden kann, hat dieses politische Schlagwort neue Akteure hervorgebracht, Nachhaltigkeitsdiskussionen politisiert und vor allem ein breites Feld von sozialen Bewegungen und praktischen Alternativprojekten vernetzt – von der Care-Bewegung über solidarische Ökonomie und Commons bis hin zu Protesten gegen Braunkohle, Flughäfen und SUVs.

Die Reduktion der Wirtschaftsaktivität ist dabei nicht das Ziel, sondern eine Konsequenz eines als notwendig erachteten Transformationsprozesses. Postwachstum heißt nicht – auch wenn dies oft missverständlich so interpretiert wird – die Wirtschaft innerhalb der bestehenden ökonomischen und sozialen Strukturen und Verteilungsverhältnisse zu schrumpfen. Ein alleiniger Fokus auf einen Schrumpfungsimperativ ist verkürzt und gefährlich, wie nicht zuletzt neoliberale und konservativ-neofeudalistische Spielarten von Wachstumskritik insbesondere in der Bundesrepublik zeigen, die Wachstumskritik zum Rechtfertigungsinstrument und Hebel von Austerität und Sozialabbau machen. Im Gegensatz dazu zielt Postwachstum auf eine demokratisch ausgehandelte Transformation, die nicht nur Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen mit einbezieht, sondern grundlegend auch Lebensweisen und Vorstellungswelten. In Abkehr von ewiger Beschleunigung, Steigerung und Überforderung geht es darum, den Übergang hin zu einer reduktiven Moderne zu gestalten. Die Kernfrage der Postwachstums­debatte lautet daher, wie materielle, gesellschaftliche, mentale und ökonomische Institutionen so verändert werden können, dass sie zum einen nicht mehr wachstumsabhängig und wachstumstreibend sind und zum anderen ohne Wirtschaftswachstum soziale Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und ein gutes Leben für alle ermöglichen. Besonders charakteristische Vorschläge, die dazu diskutiert werden, sind eine radikale Arbeitszeitverkürzung für alle sowie eine gesellschaftliche Stärkung der Care-Arbeiten, ein Grund-, aber vor allem auch ein Maximaleinkommen, der Ausbau sozialer Infrastrukturen und nichtmonetärer, commons­-basierter Formen der Daseinsvorsorge sowie ökologische Steuerreform kombiniert mit radikaler Umverteilung von Vermögen und Einkommen.

Postwachstum hat in den letzten Jahren wesentlich dazu beigetragen, wachstums- und technikfokussierte Zukunftsnarrative zu hinterfragen, die Suche nach grundlegenden und systemischen Alternativen zu stärken und vielfältige Akteure aus sozialen Bewegungen und alternativökonomischen Strömungen zusammenzuführen. Für die nächsten Jahre stellen sich grundlegende Herausforderungen auf allen diesen Ebenen. Auch wenn die Entwicklung von Postwachstum als wissenschaftlichem Forschungsparadigma besonders beeindruckend ist, ist es noch ein weiter Weg, bis die Degrowth-Hypothese – dass es möglich ist, in einem anderen Gesellschaftssystem ohne Wachstum gut zu leben – im Mainstream unterschiedlichster Fachdisziplinen, besonders auch der Wirtschaftswissenschaft, bearbeitet wird. Auf der konzeptionellen Ebene gibt es eine Vielzahl offener Fragen und es steht vor allem an, diese als gesellschaftspolitische und dadurch politisierende Debatte zu führen – und nicht als individualisierende Verzichtsdiskussion. Schließlich steht Postwachstum vor der Herausforderung, angesichts von Krieg, fossilem Rollback und exportorientierter Wachstumspolitik gesellschaftlich Mehrheiten für ein politisches Projekt zu organisieren, das auf universalistischen Werten basiert, internationalistisch ausgerichtet ist und dominanten Interessen oft diametral entgegensteht.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2022.