Die Industriekultur hat in Deutschland eine lange und vielfältige Tradition. Sie erzählt von technischen Errungenschaften, vom sozialen Wandel und von den Lebensrealitäten ganzer Generationen. Vom Montanwesen im Ruhrgebiet über die Textilindustrie in Sachsen bis zur chemischen Industrie in Rheinland-Pfalz – zahlreiche Regionen definieren sich bis heute durch ihr industrielles Erbe. Doch lange fehlte eine zentrale Struktur, die diese heterogene Landschaft bündelt, ihre Interessen vertritt und auf Bundesebene hörbar macht. Mit der Gründung des Bundesverbandes Industriekultur e. V. am 1. April 2025 im LWL (Landschaftsverband Westfalen-Lippe)-Museum Zeche Zollern in Dortmund wurde nun ein entscheidender Schritt unternommen, diese Lücke zu schließen.

Industriekultur umfasst weit mehr als denkmalgeschützte Bauten oder museale Sammlungen. Sie bewahrt auch immaterielles Kulturerbe: Wissen, Fertigkeiten und Lebensformen, die mit der industriellen Arbeitswelt verbunden und in den letzten Jahrzehnten zunehmend verschwunden sind. Insbesondere in strukturschwachen Regionen trägt Industriekultur entscheidend zur Identitätsstiftung bei – sowohl im Westen als auch im Osten der Republik. Heute ist Industriekultur jedoch weit mehr als ein nostalgischer Rückblick. Industriekulturelle Stätten sind heute lebendige Orte der Auseinandersetzung mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie bieten Räume zur Reflexion über zentrale Fragen unserer Zeit: Wie wollen wir im postfossilen Zeitalter leben und arbeiten? Wie gelingt der soziale und ökologische Umbau ganzer Regionen?

Zwar gibt es zahlreiche engagierte Einzelinitiativen, Museen, Vereine und Netzwerke – doch deren Reichweite ist oft lokal begrenzt. Gleichzeitig verlagerte sich die überregionale Diskussion bisher meist auf die europäische Ebene, etwa im Rahmen der European Route of Industrial Heritage (ERIH). Der Bundesverband füllt nun eine klaffende Lücke: Er verleiht den vielen, oft ehrenamtlich getragenen Initiativen eine einheitliche Stimme gegenüber Politik, Gesellschaft und Wirtschaft.

Die Gründung des Bundesverbandes ist das Ergebnis eines jahrelangen Prozesses. Ein entscheidender Impuls kam im März 2023 von der Jahrestagung der deutschen Sektion der Europäischen Route der Industriekultur (ERIH) in Nürnberg. Hier verabschiedeten die Teilnehmer die »Nürnberger Erklärung«, die eine »systematische und kontinuierliche Förderung der Industriekultur durch den Bund« forderte. Diese Erklärung brachte erstmals ein breites Bündnis zusammen – von UNESCO-Welterbestätten bis zu regionalen Netzwerken aus ganz Deutschland.

Bereits zuvor hatte der Deutsche Bundestag im Juni 2021 einen Antrag zur gezielten Förderung der Industriekultur in Deutschland angenommen. Im Koalitionsvertrag der Ampelregierung von 2021 wurde schließlich die Schaffung einer »Bundesstiftung industrielles Welterbe« festgeschrieben. Wie es mit diesem Thema in der neuen Legislaturperiode weitergeht, ist abzuwarten. Klar bleibt, dass Industriekultur einen verbindlichen Ansprechpartner benötigt, der die vielfältigen Interessen bündelt und wirksam vertritt.

Es entstand ein Initiativkreis, der in einem basisdemokratischen Prozess eine Vereinssatzung und Beitragsordnung erarbeitete. Die »Nürnberger Erklärung« von 2023 bildete die Grundlage, gefolgt von Fachgesprächen mit Abgeordneten des Bundestages und einem wachsenden Netzwerk engagierter Institutionen. Über 175 Teilnehmende aus nahezu allen Bundesländern kamen schließlich zur Gründungsversammlung am 1. April 2025 in Dortmund zusammen – ein klares Zeichen für die bundesweite Relevanz des Themas.

Der nun gegründete Bundesverband Industriekultur e. V. versteht sich als Plattform zur Vernetzung, Interessenvertretung und Wissensvermittlung. Die Geschäftsstelle befindet sich am traditionsreichen Ort Zeche Zollern in Dortmund, dem ersten eingetragenen Industriedenkmal und Sitz der LWL-Industriemuseen. Die Finanzierung des Pilotprojekts ist für zunächst drei Jahre gesichert. Sie wird gemeinsam getragen durch den Landschaftsverband Westfalen-Lippe und den Landschaftsverband Rheinland (LVR) sowie durch den Regionalverband Ruhr (RVR).

In zwei Wahlgängen wurde auf der Gründungsversammlung ein Vorstand gewählt, der aus insgesamt neun Personen aus dem gesamten Bundesgebiet besteht. Der geschäftsführende Vorstand setzt sich zusammen aus der ersten Vorsitzenden Kirsten Baumann, Direktorin der LWL-Museen für Industriekultur, dem zweiten Vorsitzenden Thies Schröder, Geschäftsführer der Ferropolis GmbH, und dem Schatzmeister Marius Krohn, Direktor des Industriemuseums Brandenburg an der Havel.

Zu den ersten Aufgaben zählen der Aufbau einer professionellen Geschäftsstelle, Mitgliederakquise, Öffentlichkeitsarbeit sowie der Aufbau thematischer Fachgruppen und Netzwerkstrukturen. 2027 soll eine große Tagung zur Zukunft der Industriekultur stattfinden. Langfristig strebt der Verband eine enge Kooperation mit der geplanten Bundesstiftung Industriekultur an. Darüber hinaus will er Projekte in Bildung, Forschung, Denkmalpflege, Tourismus und kultureller Nutzung begleiten und koordinieren.

Der neue Bundesverband steht vor der Herausforderung, eine heterogene Szene mit unterschiedlichsten Interessen und Ressourcen zu vereinen. Gleichzeitig eröffnet er neue Möglichkeiten: für eine koordinierte Drittmittelakquise, für den Transfer von Wissen und Ideen zwischen Großinstitutionen und kleinen Vereinen, für den bundesweiten Diskurs und die Entwicklung gemeinsamer Strategien. Die Gründung des Bundesverbandes Industriekultur ist daher ein bedeutendes kulturpolitisches Signal: für die Aufwertung der Industriekultur in der öffentlichen Wahrnehmung und für ihre Verankerung im kulturpolitischen Handlungsrahmen von Bund, Ländern und Kommunen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2025.