Wenn aus Institutionen irgendwann »renommierte« Institutionen geworden sind, ist in der Regel Vorsicht geboten. Da war mal etwas – und ist nicht mehr. So erging es dem »renommierten« Grimme-Institut (Marl), dem die Katholische Nachrichtenagentur (KNA) kürzlich bescheinigte, »zehn Jahre … in einer Art Dornröschenschlaf« verbracht zu haben. Der »renommierte« »Hörspielpreis der Kriegsblinden« wurde ausgerechnet im Jubiläumsjahr »100 Jahre Hörspiel« sehr überraschend ausgesetzt, der »Deutsche Hörspielpreis der ARD« (Preisgeld: 5.000 Euro) ganz gestrichen. Und die Auszeichnung »Hörspiel des Monats« der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste (DADK) soll »überarbeitet« werden.

Zufällig sind diese Diskussionen und Veränderungen nicht. Das – nun durch den Haushaltsbeitrag grundsätzlich neu definierte – öffentlich-rechtliche Mediensystem ersetzt seine alten durch neue und mehrmediale Strukturen – und überprüft/streicht seine etablierten Qualitätssicherungen. Das neue ÖRR-System ist vielmedial und hierarchisch aufgestellt; das Radio etwa zunehmend ein auf Synergie getrimmtes, mehr und mehr national organisiertes Medium neben anderen. Die wirkliche Macht liegt heute bei den Distributionsagenten in den neuen – medienübergreifenden – Kompetenz-Zentren.

 

Lebenskunst

Das war 1952 noch ganz anders als der »Bund der Kriegsblinden« (BDK) erstmals den »Hörspielpreis der Kriegsblinden« verlieh. Blinde galten damals als die besten und genauesten Hörer, und Kriegsblinde gab es viele. »Wir suchen«, beschrieb Friedrich Wilhelm Hymmen, der Erfinder des Preises, seine Idee, »jenes Hörspiel, das vom Menschlichen her uns anredet und uns eine Hilfe gibt, mit dem Dasein besser fertig zu werden«. Die medialen Angebote waren noch knapp damals, es gab Mittelwellenradio, Monoradio. Mehr nicht. Das Hörspiel war noch nicht wirklich anerkannt – und deshalb setzte Hymmen auf eine außergewöhnliche Kombination: In der Jury rangen Kriegsblinde und Fachkritiker um »das gewinnreichste« Hörspiel des Jahres. Ein Preisgeld gab es nicht. Der Gewinner erhielt eine Plastik; sein Hörspiel aber wurde von allen ARD-Sendern wiederholt – und das brachte nicht nur erhebliche zusätzliche Honorare. Die Wiederholungen machten das ausgezeichnete Hörspiel auch zu einem nationalen Ereignis und schufen – noch gab es keine Hörspiel-LPs, Audiobooks oder Hörspielpools – langsam einen akustischen Hörspielkanon. Verliehen wurde der Preis hochoffiziell im Plenarsaal des Bonner Bundesrates.

Es waren die Jahre der legendären literarischen Hamburger Dramaturgie. Fast alle Kriegsblindenpreise der frühen Jahre gingen (auch) an die Elbe: Günter Eich (1953) wurde ausgezeichnet, dann folgten Wolfgang Hildesheimer (1955), Friedrich Dürrenmatt (1957) oder Franz Hiesel (1960). Doch die noch ausschließlich öffentlich-rechtliche Radiolandschaft veränderte sich: Ultrakurzwelle und Stereophonie kamen hinzu, Dritte Programme, neue Autorengenerationen – und dann auch das Neue Hörspiel. 1969 erhielten Ernst Jandl und Friederike Mayröcker den Hörspielpreis. Es war ein Traditionsbruch. Fortan wurden vor allem akustisch orientierte Hörspiele prämiert. Der Süden holte auf: Christoph Buggert holte den Preis fünfmal zum Bayerischen Rundfunk nach München. Heftige Debatten erschütterten wieder und wieder die Jurysitzungen. Die Hörspielszene war gespalten. Doch dann wurde auch das zum neuen Kanon und zunehmend beliebiger. Das Duale System beeinflusste nach 1984 auch die Hörspielproduktion. Nach mehr als vierzig Jahren gab Preisgründer Hymmen 1995 den Juryvorsitz ab. Uwe Kammann, damals epd Medien, übernahm. Für einige Jahre prägte nun die neue deutsch-deutsche Realität auch den Kriegsblindenpreis.

 

Radiokunst

Seit 1994 beteiligte sich die Filmstiftung NRW (seit 2012: Film- und Medienstiftung NRW (FMS)) am Kriegsblindenpreis und sicherte ihn auch finanziell ab. Sie engagierte sich in der Hörspielförderung (2022: rund 100.000 Euro, 15 direkt geförderte Hörspiele) – und berief seit 2000 auch zunächst vier eigene Juroren aus dem »Kulturbereich«. Die Stiftung gewann an Einfluss auf den Preis, der seine Zielsetzung grundlegend veränderte. Nun wurde prämiert, was »in herausragender Weise die Möglichkeiten der Kunstform realisiert und erweitert«; bald erhielt der Preis das zusätzliche Label »Preis für Radiokunst«. Die Juryvorsitzenden wechselten: Jörg Drews, der ehemalige Kulturstaatsminister Michael Naumann, Anna Dünnebier, Gaby Hartel. Nun kamen die Preisstücke vor allem vom Westdeutschen Rundfunk. Allein zwischen 2001 und 2009 ging der Preis siebenmal nach Köln. Der »Kriegsblindenpreis« war zu einer Art NRW-Standortpreis geworden. Seine ästhetische Kraft aber schwand, auch weil das künstlerisch ambitionierte Originalhörspiel in den öffentlich-rechtlichen Sendern, seinen Programmen und Mediatheken immer weniger gewürdigt wurde. Es galt: business as usual. Auch deshalb berücksichtigte man seit 2006 auch schweizerische und österreichische ÖRR-Hörspiele.

 

Ohne Kriegsblinde

Wieder und wieder kamen gemeinsame Prämierungen nur noch schwer zustande. Blinde, gesetzte Fachkritiker und FMS-Abgesandte entwickelten sehr unterschiedliche Radiokunstvorlieben. 2003 wurde Christoph Schlingensiefs »Rosebud«, 2009 Paul Plampers »Ruhe 1« prämiert – beide Stücke waren von der Filmstiftung gefördert worden. Doch das Interesse am Kriegsblindenpreis schwand in Medien und Öffentlichkeit sichtbar. 2020 übernahm der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) die Mitträgerschaft vom BDK. Der »Kriegsblindenpreis« (seit 2022 auch mit 5.000 Euro prämiert) findet seitdem ohne die Kriegsblinden statt.

Und dann wurde 2024 die Notbremse gezogen und kein Preis vergeben und kein Hörspiel mehr gefördert. Bei FMS und DBSV spricht man inzwischen – eher nebulös – von »Neugestaltung« und »Neuausrichtung«. Erst 2025 wird zu sehen sein, was von dem zwischen (a) prekär gewordener Hörspiel- und Radiokunst, (b) neu strukturiertem ÖRR und (c) halbstaatlichen Förderungsprioritäten eingekeilten Hörspielpreis der Kriegsblinden übriggeblieben ist. Außer seinem Renommee natürlich.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2024.