Als Frank-Walter Steinmeier 2017 zum Bundespräsidenten gewählt wurde, sagten nicht wenige: Das passt zur Person. War Steinmeiers politische Performance doch schon jahrelang als »präsidial« beschrieben worden – nicht immer freundlich gedacht, manche meinten in Wahrheit auch eher »formal-behäbig«.
Jedenfalls einer, der auf dem Hochseil des politischen Zirkus nie durch Eskapaden oder Extravaganzen aufgefallen ist. Gerhard Schröder hatte ihn in die Staatskanzlei nach Hannover geholt, wo Steinmeier vom Medienreferenten zum Leiter der Staatskanzlei aufstieg.
1998 holte Bundeskanzler Schröder Steinmeier nach Berlin ins Kanzleramt. Kanzleramtsminister sind Chefmaschinisten des Regierungsapparates. Unbedingte Loyalität, Organisationstalent, Fähigkeit und Wille zur detailgenauen Arbeit gehören zum Anforderungsprofil. Seine »dienende« Rolle empfand Steinmeier dabei weder als Schmach noch als Unterwürfigkeit. In dieser Funktion war er ein existenzieller Faktor der rot-grünen Regierungskoalition von 1998 bis 2005. Er war die personelle Anlaufstelle bei massiven Problemen in diesem Bündnis. Sowohl grüne Linke als auch rechte Sozialdemokraten betrachteten ihn als »seriösen Makler« selbst bei schwersten Konflikten.
»Wenn Frank einen Vorschlag macht, weiß ich, dass ich dem zustimmen kann«, sagte einer der umstrittensten Minister über Steinmeiers Wirken. Ohne Steinmeier wären zentrale politische Weichenstellungen von Rot-Grün nicht so erfolgt, wie sie erfolgten: vom Atomausstieg bis zur Agenda 2010.
Die Rolle des kenntnisreichen, durchaus selbstbewussten, aber nicht in den Vordergrund drängenden Verhandlers und Vermittlers prägte auch Steinmeiers beide Amtszeiten als Außenminister unter Merkel. Er stellte sie als politische Führungsfigur der Regierung nie öffentlich in Zweifel, obwohl ihr hochgradiger Pragmatismus dem gelernten Sozialdemokraten auch als Mangel an originärer politischer Orientierung erschien.
Steinmeier versuchte, der von ihm betriebenen Außenpolitik ein Fundament zu geben, das letztlich auf Willy Brandt fußte, und das in doppelter Weise: Sowohl in Bezug auf eine Kooperationsperspektive mit Russland als auch im Bewusstsein der Bedeutung des globalen Südens: »Außenpolitik ist Weltinnenpolitik« – dieses Diktum Brandts war eine erkennbare Richtschnur der Steinmeierschen Amtsauffassung unter Merkels Kanzlerschaft.
Wirkten die beiden Amtszeiten als Außenminister wie eine Art Fortsetzung der selbstbewusst-dienenden Rolle auf höherer Ebene, so ließ die Phase dazwischen – Steinmeier als Oppositionsführer im Bundestag – gelegentlich habituelles Unbehagen erkennen. Steinmeier nahm die Rolle an – aber die »Abteilung Attacke« ließ manchmal mehr Pflicht zum Angriff als Lust am Angriff erahnen. »Man muss sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen«, zitierte Steinmeier in der zweiten Amtszeit Albert Camus – und das war nicht nur Bonmot.
Warum dieser Vorlauf? – Weil er deutlich macht, dass Frank-Walter Steinmeier, als er 2017 zum 12. Bundespräsidenten gewählt wurde, über 20 Jahre politische Karriere an zentralen Schaltstellen des deutschen Politikbetriebs im biografischen Rucksack mitbrachte – in einem Ausmaß und auf einem Niveau, unvergleichlich mehr als so ziemlich jeder seiner Amtsvorgänger, abgesehen vielleicht von Walter Scheel.
Jener »präsidiale Habitus«, der Steinmeier nach außen so geeignet erscheinen ließ, stieß im Inneren der Person auf Erfahrung und Sediment einer jahrzehntelangen Verhaftung im politischen Machtapparat mit all seinen Höhen und Tiefen, Tricks und Fallgruben. Steinmeier hat sie alle kennengelernt – und oft genug selbst praktiziert –,»ehrlicher Makler« hin oder her. Daraus erwuchs mit dem Amtsantritt, bis heute nachwirkend, dass Steinmeier, biografisch gesehen, der »politischste« aller bisherigen Bundespräsidenten ist.
Aber er kann und darf eben nicht einfach dieser »politische Präsident« sein, der seiner Prägung folgt. Wenn diese sich doch einmal situativ Bahn bricht wie im Wort der »Kaliberexperten«, so ist das öffentliche (bzw. veröffentlichte) Echo umso heftiger.
Dass nun, zur Hälfte der zweiten Amtsperiode, ein derart geballter Hagel an Kritik und Unmut auf Steinmeier niederprasselt, macht sich vordergründig fest an einem deplatziert wirkenden Begriff oder an einem Gastgeschenk, das aus der Zeit gefallen scheint – Dönerspieß in die Türkei war vielleicht auch nicht die allerbeste Idee.
Im Grunde Petitessen, hinter denen ein anderer Vorwurf aufscheint: Steinmeiers öffentliche Äußerungen seien eher belanglos, von seinen Reden bleibe nichts hängen, anders als bei seinen Amtsvorgängern gebe es keine markante These, die als Position die Person kennzeichne: Keine »Ruckrede«, kein »Tag der Befreiung«, kein »Versöhnen statt Spalten« kein »Islam zu Deutschland«.
Das kann man, auf dieser Ebene, so feststellen – es ließe sich schlecht dagegen argumentieren. Und doch: Es ist Kritik, die an der Oberfläche bleibt –erst recht, wenn sie sich dann auch gleich noch auf das Buch erstreckt, welches Steinmeier jüngst geschrieben hat: ein schmaler Band, mit dem schlichten Titel »Wir«.
Das klingt simpel und prätentiös zugleich. Will der Bundespräsident, als Präsident aller Deutschen, uns auf knapp 150 Seiten erklären, wer »Wir« sind?
Nein, will er nicht. »Wir« ist ein Essay – ein Versuch also. Geschrieben zum 75. Jahrestag der Verfassung und zum 35. Jahrestag des Mauerfalls, ist es ein Versuch Steinmeiers, historische, ideengeschichtliche, soziale Markierungen darzulegen, die für die Geschichte dieser Republik ebenso konstitutiv sind wie für die Identität ihrer Bürger.
Aber dies ist weder ein Geschichtsbuch noch ein Manifest: Es ist ganz wesentlich eine Selbstreflexion Frank-Walter Steinmeiers. Er hat, kursorisch und oft knapp, aufgeschrieben, was ihm zu Werden und Sein von Staat und Gesellschaft relevant erscheint. Selbst Kritiker, die sich als wohlmeinend verstehen, sagen, es stehe ja viel Richtiges und wenig Falsches in diesem Buch – aber das meiste kenne man doch. Eigentlich: präsidiale Langeweile. Zudem münde die Darstellung des Bekannten in Appellen – womit man aber auch niemanden, der nicht sowieso schon überzeugt sei, erreiche.
So kann man den Text lesen (bzw. die Lektüre für überflüssig halten) – aber er lässt sich auch sehr anders auffassen, als eine Art topografische Karte, deren geschwungene Linien die Raumverläufe des vermessenen Gebiets kenntlich machen: Zeit- und Ereignisverläufe der deutschen Nation vom Kriegsende bis in die Gegenwart.
Hier benennt Steinmeier die Verhältnisse, wie er sie in seiner Amtszeit vorfindet, die nicht vergleichbar sind mit allen Amtszeiten aller vorherigen Präsidenten: eine durch multiple Krisen geprägte Gegenwart, die ihren Bewohnern Belastungen und Verunsicherungen zumutet, wie es sie in der jüngeren deutschen Geschichte zuvor nicht gab, von Finanzkrisen über Pandemie bis zum offenen Krieg, dem überwölbenden Klimawandel und der bedrohlichen demografischen Perspektive.
Diesen Stress und die Erosion sozialer Zusammenhänge, die lange Jahre der Nachkriegsgeschichte mehr oder weniger stabil zu sein schienen, erkennt und benennt Steinmeier. Dass das »Wir« als erlebte und gelebte Duplizität von Gemeinschaft und Gesellschaft dabei unter die Räder zu kommen droht, ist Steinmeiers Sorge. Lösungen hat er auch nicht als Rezepte parat. Diese Selbstreflexion ist somit auch das Angebot einer gemeinsamen Suche.
Was darf man von einem Bundespräsidenten, der das gesamte Volk repräsentieren soll, in solcher Lage verlangen? Man kann die mediale und institutionelle Kritik an Steinmeiers Amtsführung auch so verstehen: Hinter dem Vorwurf, er »vergeige« eigentlich seine zweite Amtszeit, steckt eine Erwartungshaltung, die Führung und Orientierung fordert, welche von der gewählten Regierung nämlich nicht erbracht wird.
Die Enttäuschung über angeblich verpasste Chancen des Präsidenten in Wahrheit also eine Enttäuschung über verpasste Chancen bzw. nicht wahrgenommene Aufgaben einer »Fortschrittskoalition«, die sich häufig eher als wechselseitiger Blockadezusammenhang präsentiert? Vielleicht. Zumindest Elemente einer solchen auf dem Kopf stehenden Hoffnungskritik scheinen im gegenwärtigen »Trend« des Steinmeier-Bashings zu stecken.
Tatsächlich bietet die Steinmeiersche Selbstreflexion, die Suche nach den Möglichkeiten eines zeitgemäßen »Wir« in ihrem Material aber auch einen gemeinsamen Fluchtpunkt, auf den die Raumlinien der »topografischen Karte« hinauslaufen. Es wäre der Begriff einer »solidarischen Gesellschaft«, die als »magnetischer Nordpol« eines »politischen Präsidenten neuen Typs« dienen kann, eines Präsidenten, der »solidarische Gesellschaft« auf multiplen Ebenen durchdeklinieren kann: Das umschließt geläufige Solidaritätsformen innerhalb von Organisationen und zwischen Organisationen bis hin zu staatlicher Solidarität mit einer sich gegen den imperialen Angriffskrieg verteidigenden Nation.
Aber auch die durch wachsende Auseinanderdrift materieller Lebensverhältnisse, Zugangsmöglichkeiten zu Finanzressourcen, Auswirkungen des Klimawandels, Migrationsströme und gesellschaftlicher Teilhabe auftretenden sozialen Scherkräfte stehen im eklatanten Widerspruch zur »solidarischen Gesellschaft«, die im Brandt’schen Sinne der »Weltinnenpolitik« auch immer als großregionale, in letzter Konsequenz: globale zu verstehen ist.
Akteure einer solchen Auffassung von »solidarischer Gesellschaft« wären dann logischerweise neben Individuen, Gemeinschaften, zivilgesellschaftlichen Organisationen auch staatliche Institutionen, deren Aufgabe es ist, den Bedrohungen der »solidarischen Gesellschaft« entgegenzuwirken.
Dort, wo Steinmeiers Essay sich mit den Konstitutionsbedingungen eines neuen »Wir« konkret beschäftigt, landet er eigentlich immer wieder bei Aspekten bzw. Vorstellungen, die sich ins Narrativ der »solidarischen Gesellschaft« einfügen (lassen). In dem, was dieser Begriff meint, lassen sich zahlreiche Anknüpfungs- und Konkretisierungspunkte finden, die den Bundespräsidenten als obersten Repräsentanten dieser Nation in einem mehr als numerisch-additiven Sinn als »Präsidenten für alle« in Aktion treten lassen können.