Wie unsere Gesellschaft so befindet sich auch die Museumswelt im stetigen Wandel. Während es in den 2000er Jahren für Museen wichtig war, ein neutraler Ort zu sein, wird heute von den Häusern immer stärker gefordert, Position zu beziehen – gerade was die relevanten Fragen unserer Zeit betrifft. Wir merken, dass Museen in der Gesellschaft großes Vertrauen genießen, das geht aber auch mit einer großen Verantwortung einher. Dieser Verantwortung stellt sich das Übersee-Museum Bremen, ohne dabei die wechselhafte Geschichte des Museums aus den Augen zu verlieren.
In der Hochphase des Imperialismus gegründet, ist das Übersee-Museum im Jahr 1896 ein Kind seiner Zeit. Mit der Gründung des Museums als »Städtisches Museum für Natur-, Völker- und Handelskunde« begann ein enormer Ausbau der Sammlungen. Begünstigt wurde die Sammeltätigkeit durch koloniale Netzwerke, die weit über die deutschen Kolonien in Übersee hinausreichten. Der Norddeutsche Lloyd etwa gewährte den Museumsmitarbeitern »freie Fahrt und freie Fracht auf allen Weltmeeren«, wie es damals hieß. Das Museum erwarb umfangreiche Sammlungen oder erhielt diese als Schenkung von Händlerinnen und Händlern, Kolonialmilitärs, Missionarinnen und Missionaren, Kolonialbeamten oder Privatpersonen. Während der NS-Zeit wurde das Übersee-Museum zum Instrument des Kolonialrevisionismus. Carl Friedrich Roewer, Mitglied der NSDAP, wurde 1933 Musemsdirektor, und 1935 folgte die Umbenennung in »Deutsches Kolonial- und Übersee-Museum«. Die Sammlungserweiterung dieser Zeit konzentrierte sich auf Ankäufe von ethnografischen und naturkundlichen Objekten aus den ehemaligen deutschen Kolonialgebieten. Der Blick zurück konfrontiert uns mit begangenem Unrecht und mit Wertvorstellungen auf europäischer Seite, die nicht zu vertreten sind.
Die kolonialen Kontexte, in denen unsere Sammlungen zum großen Teil entstanden sind, und das Unrecht der Kolonialzeit lassen sich nicht ungeschehen machen. Doch wie können wir als Museum heute mit dieser Vergangenheit umgehen? Wir können und müssen die Provenienz der Objekte erforschen, daraus Konsequenzen ziehen und unseren Blick vor diesem Hintergrund auf die Zukunft richten. Das Ziel: die Dekolonisierung. Dazu gehört die grundsätzliche Bereitschaft zur Rückgabe von Objekten, ein Höchstmaß an Sensibilität und Transparenz. So gab es Rückgaben aus dem Übersee-Museum bereits 1954, 1999, 2006, 2017 und 2022 – weitere werden sicherlich folgen.
Für das Übersee-Museum bedeutet Dekolonisierung, die Zukunft gemeinsam mit den Herkunftsgesellschaften zu gestalten. Dabei wird vielfach der Wunsch nach Austausch und Kooperationen an uns herangetragen, mal begleitet vom Wunsch nach der Rückgabe einzelner Stücke, mal ganz ohne Rückgabeforderungen. Ersteres konnten wir etwa im Oktober 2022 beim Besuch des Lamido von Tibati (Kamerun) feststellen: In unserer Afrika-Sammlung befinden sich etwa 150 Kulturgüter, die 1898/99 aus dem Palast und der Stadt geraubt wurden. In den Gesprächen zwischen dem Lamido und der Stadt Bremen geht es vorrangig um mögliche landwirtschaftliche Kooperationen zwischen den beiden Städten. Folgt die Kameruner Seite den Wünschen des Lamido, werden einzelne Stücke aus dem Palastinventar die Reise von Bremen nach Tibati antreten. Über die Zukunft der gesamten Sammlung wird noch zu sprechen sein.
Wie Kooperationen im Museumskontext aussehen können, erleben wir gerade bei der Konzeption der neuen Ozeanien-Ausstellung. Die für Herbst 2024 geplante interaktive Dauerausstellung beleuchtet anhand der großen Themen Biodiversität, kulturelle Identität, Ressourcennutzung, Klimawandel und koloniale Vergangenheit das Leben und die Kulturen im Pazifikraum. Der regionale Schwerpunkt liegt auf den ehemaligen deutschen Kolonien, insbesondere auf Samoa und Papua-Neuguinea. In diesem Rahmen laufen am Museum eine Kooperation mit der National University of Samoa sowie ein Provenienzforschungsprojekt, das rund 700 ethnografische Sammlungsobjekte aus der Provinz New Ireland, ehemals Neumecklenburg, in Papua-Neuguinea in den Blick nimmt. Im Zuge der Forschungsarbeiten wird im Sommer 2023 auch ein Meisterschnitzer aus New Ireland nach Bremen kommen, um hier vor Ort mit unseren Sammlungen zu arbeiten.
Wir erleben, dass die Herkunftsgesellschaften aktiv Einfluss nehmen möchten auf das, was hier im Museum geschieht. Mit mehreren Videoinstallationen möchten wir in der neuen Ozeanien-Ausstellung die Bedeutung kultureller Traditionen für Menschen aus dem Pazifikraum heute beleuchten. Auf einen Aufruf in den sozialen Medien erhielten wir eine enorme Resonanz: Pacific Islanders aus ganz Europa wollen uns ihre Geschichten erzählen. Diese Rückmeldung zeigt uns, wie wichtig es ist, den Stimmen der Communitys Raum zu geben, aber verdeutlicht auch das Vertrauen, das uns als Institution entgegengebracht wird.
Darüber hinaus bestreiten wir digitale Wege. Für das Teilen des gemeinsam erarbeiteten Wissens spielen sowohl die Digitalisierung von Objekten als auch mehrsprachige, virtuelle Angebote eine wichtige Rolle, damit alle Seiten profitieren können. Dazu hat das Museum das Projekt »Oceania Digital« ins Leben gerufen. Ziel ist es, die Objekte im Museum und damit das kulturelle Erbe Ozeaniens für die Menschen in Samoa und in weiteren Pazifikregionen digital erfahrbar zu machen. In enger Zusammenarbeit mit den Menschen vor Ort digitalisiert und veröffentlicht das Übersee-Museum hier schrittweise seine Sammlungen. Wir wünschen uns, dass diese kontinuierliche Zusammenarbeit für alle Beteiligten – hier im Museum und im Pazifik – eine nachhaltige Bereicherung darstellt.
Indem wir die Herkunft unserer Objekte, unser Sammlungsmanagement und unsere Ausstellungspraxis hinterfragen, begeben wir uns auf den Weg zu einem neuen Selbstverständnis. Unsere Vision für die Zukunft ist es, mit unserer Arbeit die Mauern des Museums zu verlassen: Wir wollen neue Formen der – digitalen – Partizipation schaffen und es Menschen aus allen Regionen der Welt ermöglichen, an den Themen und Inhalten des Übersee-Museums teilzuhaben, um gemeinsam Museumsarbeit neu und transparent zu denken.