D as fünfjährige Berliner Projekt »Dekoloniale Erinnerungskultur in der Stadt« – von 2020 bis 2024 – befindet sich in seinem dritten Jahr: Zeit, um zurück- und auch vorauszuschauen. Was haben wir erreichen können? Werden wir den Erwartungen an ein impulsgebendes Modellprojekt gerecht? Was steht noch an und aus?

Das Dekoloniale-Team bearbeitet vier Projektbereiche. »Geschichte[n]« kartiert transkontinentale Lebens-, Institutions-, Objekt- und Ortsgeschichten zum (deutschen) Kolonialrassismus und zum antikolonialen Widerstand. In Zusammenarbeit mit »unserem« herausragenden Design-Studio »Visual Intelligence« haben wir eine Online-Weltkarte entwickelt, die mit eurozentrischen Perspektiven bricht und multimediale Erzählweisen unterstützt. Diese Plattform hat auch Bremen und Hamburg überzeugt: Die Kolonialmetropolen von einst wollen sich mit ihren Geschichten am Dekoloniale-Mapping beteiligen.

Dokumentiert sind auf unserer Weltkarte auch die künstlerischen Beiträge des zweiten Teilbereichs »In[ter]ventionen«. Da ist zum einen das jährliche Dekoloniale-Festival, das mit seinen vielfältigen Events und performativen Stadtrundgängen im Uhrzeigersinn durch die Stadt wandert. Zum anderen finden vierteljährlich transnationale Denkwerkstätten – »[Re]visionen« – statt, in denen drängende Fragen einer antikolonialen Erinnerungskultur diskutiert werden. In ihrem Fokus steht der Austausch über angemessene Lern- und Gedenkorte zu Kolonialismus, Kolonialrassismus und Widerstand. Aber wir haben auch kritische Debatten zur zögerlichen Rückgabe von geraubten Kulturschätzen und menschlichen Gebeinen sowie über den Ausschluss unabhängiger Nama- und Hererovertretungen aus den deutsch-namibischen Verhandlungen zum Genozid von 1904 bis 1908 organisiert.

Der dritte Teilbereich »[Re]präsentationen« umfasst unsere Kooperationen mit Visual Intelligence« und ausgewählten Berliner Museen. 2020/2021 haben wir »zurückgeschaut|looking back«, unsere viel beachtete erste Dauerausstellung zum Kolonialismus in einem Berliner Museum, grundlegend überarbeitet. Diese Kooperationsausstellung mit dem Museum Treptow zur Ersten Deutschen Kolonialausstellung 1896 hat unter anderem das Projekt »zurückERZÄHLT – ein Hörspaziergang« von 2020/21 sowie das Leipziger Projekt »Colonial Memory: ReTellingDOAA« von 2022/23 inspiriert.

Erst seit Ende Oktober 2022 ist unsere Sonderausstellung »TROTZ ALLEM: Migration in die Kolonialmetropole Berlin« geöffnet, die wir gemeinsam mit dem FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum erarbeitet haben. Doch auch hier wurde der Ball schon von an-deren aufgenommen. So produziert rbb Kultur gerade eine Hörfunkreihe zu den dort präsentierten Familiengeschichten. Vor wenigen Tagen ist das Bezirksmuseum zudem vom kamerunischen ZENÜ-Network kontaktiert worden, das die Ausstellungsinhalte für die eigene Bildungsarbeit in Westafrika nutzen will.

Wir hoffen, dass unsere für September 2023 geplante Kooperationsausstellung mit dem Museum Charlottenburg-Wilmersdorf Vergleichbares anstoßen kann. Das Projekt beschäftigt sich mit der verdrängten Geschichte transnational-solidarischer Kämpfe gegen Rassismus, Kolonialismus und Imperialismus zwischen 1919 und 1933. Bis zur Zerschlagung dieser Widerstandsbewegung(en) durch das NS-Regime spielte Berlin hier – neben Hamburg – eine zentrale Rolle.

Bereits seit Beginn des Dekoloniale-Projekts kooperieren wir auch mit dem Deutschen Technikmuseum Berlin. 2020 haben wir gemeinsam den performativen Abbau einer unakzeptablen Installation zum brandenburgisch-preußischen Versklavungshandel organisiert. Die dabei entstandene »Leerstelle« sollte eine Art »offener Wunde« bleiben und dauerhaft Raum für längst überfällige Debatten bieten, wie z. B. über die verheerende Rolle, die europäische Technologien bei der Kolonisierung der Welt spielten.

Dem unerwartet großen Interesse weiterer bezirklicher und städtischer Museen in Berlin an Austausch, Beratung und Zusammenarbeit haben wir versucht, mit einem vierten Arbeitsbereich zu entsprechen. In »Entwicklung[en]« haben wir eine Reihe von Runden Tischen organisiert und uns parallel für die Einrichtung einer dauerhaften Kompetenzstelle zur Dekolonisierung von Museen bei der Stiftung Stadtmuseum Berlin eingesetzt. Gemeinsam mit dem Landesverband der Berliner Museen und den Regionalen Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie (RAA Berlin) hat die Stelle nun für diesen Dekoloniale-Bereich ein eigenes Austausch- und Fortbildungsprogramm aufgesetzt, das Anfang 2023 beginnen wird.

Diese vielfältigen Impulse kann das Dekoloniale-Projekt nur aufgrund seiner außergewöhnlichen Struktur aussenden, die eine enge und längerfristige Zusammenarbeit zwischen der Stiftung Stadtmuseum Berlin und drei afrodiasporischen bzw. postkolonialen Organisationen möglich macht. Da die Stiftung dabei vor allem die Verwaltung der Fördermittel von Bund und Land sowie weitere administrative Aufgaben übernommen hat, können sich die Projektbeteiligten von Each One Teach One (EOTO), der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) und Berlin Postkolonial auf die inhaltliche Umsetzung der Projektmaßnahmen konzentrieren.

Zugleich ist durch die Stimmenmehrheit der Initiativen im Lenkungsausschuss sichergestellt, dass die Projektsteuerung maßgeblich in afrodiasporischer Hand liegt und gegen ihr gemeinsames Votum keine Maßnahmen beschlossen werden können. Beispielsweise hat die Stiftung Stadtmuseum Berlin akzeptieren müssen, dass sich das Dekoloniale-Team nicht an Projekten im Humboldt Forum beteiligen wird. Dagegen unterstützen wir die Bemühungen des Stadtmuseums um eine selbstkritische Aufarbeitung seiner kolonialen Geschichte und Strukturen. Für 2024 ist zudem ein gemeinsames Ausstellungsprojekt im öffentlichen Raum geplant.

Leider ist diese beispielgebende Projektstruktur bislang noch von keinem anderen Bundesland übernommen worden. Offenbar reicht das nun vielerorts erwachende Interesse am Kolonialismus nicht so weit, dass die kulturpolitisch Entscheidenden ihr Vertrauen in BIPoC-Initiativen legen, die sich kolonialkritisch engagieren. So ist es noch offen, ob »Dekoloniale Erinnerungskultur in der Stadt« auch in diesem Sinne zu einem Modellprojekt werden wird.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2022 – 1/2023.